Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 62

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unberührt lassen und dabei meistens auf dem Papier bleiben, da sie zu den herrschenden Interessen der Beamtenklasse im Gegensatz stehen.

Die Türkei kann sich somit als Ganzes nicht regenerieren. Sie bestand aber von vornherein aus mehreren verschiedenen Ländern. Die Stabilität der Lebensweise, die Abgeschlossenheit der Provinzen und der Nationalitäten war verschwunden. Kein materielles Interesse, keine gemeinsame Entwicklung war aber geschaffen worden, die sie innerlich verbinden würde. Im Gegenteil, der Druck und das Elend der gemeinsamen Zugehörigkeit zum türkischen Staat wurde immer größer. Und so ergab sich eine natürliche Tendenz der verschiedenen Nationalitäten, aus dem Ganzen zu entkommen und in einer selbständigen Existenz instinktmäßig den Weg zur höheren sozialen Entwicklung zu suchen. Damit war über die Türkei das historische Urteil gesprochen: Sie ging dem Zerfall entgegen.

Wenn auch alle Untertanen der Pforte gleich das Elend eines verfallenden Staatsorganismus zu kosten bekamen und die verschiedenen moslemitischen Stämme: Drusen, Nasarier, Kurden, Araber, sich auch gegen das türkische Joch empören, teilte sich doch die separatistische Tendenz vor allem den christlichen Ländern mit. Hier fiel der materielle Interessengegensatz vielfach mit den nationalen Scheidegrenzen zusammen. Der Christ ist in seinen Rechten zurückgesetzt, sein Eid gilt nichts gegen einen Mohammedaner, er darf keine Waffe tragen, er kann in der Regel kein öffentliches Amt bekleiden. Was noch wichtiger aber – er sitzt oft als Bauer auf dem Grund und Boden eines mohammedanischen Grundbesitzers und wird von mohammedanischen Beamten ausgesaugt. Auf dem Grunde liegt also vielfach ein Klassenkampf – ein Kampf des Kleinbauern und Pächters mit der Grundbesitzer- und Beamtenklasse, wie dies z. B. in Bosnien und Herzegowina war, wo die Verhältnisse stark an Irland erinnerten. Die durch ökonomischen und rechtlichen Druck erzeugte Opposition fand hier daher in den nationalen und religiösen Gegensätzen eine fertige Ideologie vor. Die Beimengung des religiösen Elements mußte ihnen einen besonders grellen und wilden Charakter verleihen. Und so waren alle Elemente vorhanden, die einen tödlichen Kampf der christlichen Nationen mit der Türkei schaffen mußten, den Kampf der Griechen, Bosnier und Herzegowiner, Serben und Bulgaren. Jetzt kommt die Reihe an die Armenier.

Angesichts der sozialen Verhältnisse, die wir flüchtig skizziert haben, erscheinen die Behauptungen, die Aufstände und nationalen Kämpfe in der Türkei seien künstlich erzeugte Putsche der Agenten der russischen Regierung, als geradeso tiefsinnig wie die Behauptungen der Bourgeoisie,

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