Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 396

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der Zollpolitik und im Militarismus. Beide – Zollpolitik wie Militarismus – haben in der Geschichte des Kapitalismus ihre unentbehrliche und insofern fortschrittliche, revolutionäre Rolle gespielt. Ohne den Zollschutz wäre das Aufkommen der Großindustrie in den einzelnen Ländern nicht[1] möglich gewesen. Heute liegen aber die Dinge anders.[2] [In allen wichtigsten Ländern, und zwar gerade in denen, die am meisten Zollpolitik treiben, ist die kapitalistische Produktion so ziemlich zum gleichen Durchschnitt gelangt.] Vom Standpunkte der kapitalistischen Entwicklung, d. h. vom Standpunkte der Weltwirtschaft, ist es heute ganz gleichgültig, ob Deutschland nach England mehr Waren ausführt oder England nach Deutschland. Vom Standpunkte derselben Entwicklung hat also der Mohr seine Arbeit getan und könnte gehen. Ja er müßte[3] sogar gehen. Bei der heutigen gegenseitigen Abhängigkeit verschiedener Industriezweige müssen Schutzzölle auf irgendwelche Waren die Produktion anderer Waren im Inlande verteuern, d. h. die Industrie wieder unterbinden. Nicht aber so vom Standpunkte der Interessen der Kapitalistenklasse. Die Industrie bedarf zu ihrer Entwicklung des Zollschutzes nicht, wohl aber die Unternehmer zum Schutze ihres Absatzes. Das heißt, die Zölle dienen heute nicht mehr als Schutzmittel einer aufstrebenden kapitalistischen Produktion gegen eine reifere, sondern als Kampfmittel einer nationalen Kapitalistengruppe gegen eine andere. Die Zölle sind ferner nicht mehr nötig als Schutzmittel der Industrie, um einen inländischen Markt zu bilden und zu erobern, wohl aber als unentbehrliches Mittel zur Kartellierung der Industrie, d. h. zum Kampfe der kapitalistischen Produzenten mit der konsumierenden Gesellschaft. Endlich was am grellsten den spezifischen Charakter der heutigen Zollpolitik markiert, ist die Tatsache, daß jetzt überall die ausschlaggebende Rolle darin überhaupt nicht die Industrie, sondern die Landwirtschaft spielt, d. h., daß die Zollpolitik eigentlich zu einem Mittel geworden ist, feudale Interessen in kapitalistische Form zu gießen und zum Ausdruck zu bringen.

Die gleiche Wandlung ist mit dem Militarismus vorgegangen. Wenn wir die Geschichte betrachten, nicht wie sie hätte sein können oder sollen, sondern wie sie tatsächlich war, so müssen wir konstatieren, daß der Krieg den unentbehrlichen Faktor der kapitalistischen Entwicklung bildete. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika und Deutschland, Italien und die

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[1] 2. Auflage: kaum.

[2] 2. Auflage: eingefügt „Heute dient der Schutzzoll nicht dazu, junge Industrien in die Halle zu bringen, sondern veraltete Produktionsformen künstlich zu konservieren“.

[3] 2. Auflage kursiv.