Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 84

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Der Mangel an einem unmittelbaren politischen und sozialpolitischen Programm machte es der Partei unmöglich, die Arbeitermassen, das Proletariat als Klasse in den Kampf hineinzuziehen. Das Verschwörertum war nie für Massen geschaffen, es legte immer die Aktion im Namen der Massen in die Hände einer Handvoll ihrer revolutionären Anwälte. Trat die Masse aus eigenem Antrieb. auf die Bühne, so vermochte ihr die Partei nichts Praktischeres und Handgreiflicheres zu bieten als das eigene enge Sektendogma: die Vertröstung auf die „soziale Revolution“. Den gewerkschaftlichen Kampf verwarf sie als nutzlos und schrieb den Streiks eine revolutionäre Bedeutung nur dann zu, wenn es gelingen sollte, ihnen einen blutigen Ausgang zu geben. Angesichts dessen mußte die Bewegung einen sektiererischen Charakter annehmen und sich in die engen Schranken der Geheimzirkel fügen, in denen die allgemeinen sozialistischen Prinzipien und der Terrorismus gepredigt wurden.

Andererseits aber ist die blanquistische Taktik nur auf das jeweilige Zentrum der Staatsmaschine berechnet. Ein Staatsstreich in Krähwinkel wird - wie auch Guy de Maupassant in seinem „Coup d’Etat“ geistreich gezeigt - zur Farce. Freilich ist es zum Staatsstreich in Rußland nicht gekommen. Aber auch der Terrorismus der „Narodnaja Wolja“, der die Staatsmaschine zu desorganisieren hatte, war eigentlich anwendbar nur da, wo die Fäden der Staatsregierung zusammenlaufen - in der Hauptstadt, in Petersburg. Daher ist es in Polen, obgleich das „Proletariat“ mit der „Narodnaja Wolja“ 1889 ein förmliches Aktionsbündnis geschlossen hatte, anstatt des Terrorismus - abgesehen von einem Fall der Selbstverteidigung, wo die Partei zwei Verräter töten ließt[1] - nur bei der Predigt des Terrorismus und bei dem äußeren organisatorischen Kram des Verschwörertums, den „Komitees“, „Agenten ersten und zweiten Grades“ etc., geblieben.

Wir überlassen es jedoch, um mit Engels zu sprechen, den politischen Kleinkrämern, an diesen „lächerlichen Phantastereien“ der Gründer des polnischen Sozialismus herumzuklauben und sich über die eigene nüchterne Denkweise zu freuen. Tatsächlich hat sich die Partei „Proletariat“ enorme Verdienste um die Sache der polnischen Arbeiterklasse erworben. Sie war es, die zuerst mit der ganzen Rücksichtslosigkeit und Schroffheit einer Sekte den Interessengegensatz der Arbeiterklasse zur bürgerlichen Gesellschaft in Polen proklamiert, den politischen Kampf, wenn auch unklar über dessen positive Ziele, kräftig eingeleitet, die Arbeiterschaft durch eine Masse von Flugblättern, Broschüren, sozialistischen Zeitschriften aufgerüttelt und

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[1] Auf Beschluß des Zentralkomitees der Partei „Proletariat“ war im Jahre 1883 in Zgierz auf Franciszek Helszer und Sremski und in Warschau auf Skrzypczyûski ein Anschlag verübt worden.