Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 85

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durch ihr in geheimer Druckerei in Warschau 1883 und 1884 hergestelltes Organ[1] ebenso wie durch den großen Sozialistenprozeß 1885 dem bürgerlichen Polen und der Zarenregierung einen gehörigen Schreck vor dem roten Gespenst eingejagt hat.

Das dauerndste Verdienst des „Proletariat“ gegenüber der polnischen Arbeiterklasse war aber seine klare Stellungnahme zum Nationalismus. Es ist kein Zufall, daß die nationale Frage der erste Gegenstand war, mit dem sich die polnischen Sozialisten befaßt haben. Der polnische Arbeiter kann nicht in den politischen Kampf eintreten, der Regierung gegenüber irgendwelche Stellung einnehmen, ohne sich eo ipso — da die Regierung eine fremde ist — auch in dieses oder jenes Verhältnis zu der Tatsache der Fremdherrschaft zu setzen. Für die Sozialisten galt es außerdem, sich noch mit den in der politischen Gesellschaft spukenden nationalen Überlieferungen auseinanderzusetzen. Die Gründer der Partei „Proletariat“ haben denn auch, noch bevor sie sich eine Parteiorganisation gegeben hatten, zwischen der Arbeiterbewegung und dem Nationalismus das Tischtuch zerschnitten. „Die klare oder verschleierte Aufstellung eines solchen Programms (der Wiederherstellung Polens) für alle drei Teile Polens sowohl wie für jeden einzelnen derselben“, schreibt 1881 Warynski, der nachmalige Gründer und das geistige Haupt des „Proletariat“, „ist schädlich angesichts der Aufgaben, denen die Sozialisten in ihrer Tätigkeit Rechnung tragen müssen. Die unmittelbaren politischen Programme, die von den Sozialisten für den täglichen Kampf mit dem Kapital aufgestellt werden, haben zum Zweck nicht die ‚nationale Wiedergeburt‘, sondern die Erweiterung der politischen Rechte des Proletariats, die Ermöglichung einer Massenorganisation zum Kampfe mit der Bourgeoisie als einer politischen und sozialen Klasse.“ Damit wurde zwar die polnische Frage theoretisch noch nicht gelöst, aber das praktische Verhalten der Sozialisten ihr gegenüber mit aller erwünschten Deutlichkeit formuliert.

Die in den letzten zitierten Zeilen durchblickende sozialdemokratische Auffassung Warynskis vom politischen Kampfe ist charakteristisch für ihn, den feinsten Kopf, den die polnische sozialistische Bewegung aufzuweisen hat. In der Partei „Proletariat“ ist diese Auffassung leider nicht mehr zur Geltung gekommen, und die Bewegung schiffte — wie gesagt — mit vollen Segeln ins blanquistische Fahrwasser. Jedoch den Nationalismus bekämpfte das „Proletariat“ mit allen Mitteln und betrachtete stets die nationalen Bestrebungen als solche, die die Arbeiterklasse nur von ihren eigentlichen Zielen abwenden können.

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[1] Gemeint ist das von der Partei „I. Proletariat“ herausgegebene Organ „Proletariat“.