die sicheren Merkmale des landesüblichen Opportunismus, wie er nicht nur in Bayern, sondern in Frankfurt a. M., in Elberfeld, in Mainz gepredigt wird. Und es stellt sich bei diesem wie bei allen bisherigen Fällen heraus, daß, wo bei einer Frage der Parteipolitik die „Besonderheiten der bayerischen Verhältnisse“ aufmarschieren, sie in Wahrheit nichts anderes sind als ein Deckmantel für die gewöhnliche Staatsmannspolitik, für den guten alten Opportunismus.
Dies bestätigt übrigens noch ein Umstand, an den es angesichts des kommenden Parteitags nicht ohne Interesse ist zu erinnern.
Wäre wirklich die opportunistische Politik, wo und wann sie bei den bayerischen Genossen zum Vorschein kommt, durch die Besonderheiten der bayerischen Verhältnisse bedingt, so müßten die Genossen Bayerns in allen Fragen der allgemeinen Parteipolitik, die für das übrige Deutschland gelten soll, logischerweise das radikalste, revolutionärste Vorgehen befürworten. Seltsamerweise ist das gerade Gegenteil der Fall, wie das Verhalten des Genossen Vollmar in Stuttgart beweist[1]. Die „praktische Politik“ erscheint ihm auch für die ganze deutsche Sozialdemokratie, auch dort, wo die famosen „bayerischen Verhältnisse“ gänzlich fehlen, geboten. Es handelt sich also um eine Taktik und nicht um ein Land, um den Opportunismus und nicht um Bayern.
Und soll einmal Bayern dabei eine besondere Rolle spielen, so besteht sie u. E. nur darin, daß die bayerischen Experimente gerade am besten geeignet sind, wie auch die letzten „Wahleroberungen“ zeigen, diese Taktik zu kompromittieren. Sechs Landtagsmandate sind freilich eine sehr hübsche Sache, aber habent sua fata – mandata (ihr Schicksal haben Mandate).
Leipziger Volkszeitung,
I: Nr. 206 vom 6. September 1899,
II: Nr. 207 vom 7. September 1899.
[1] Auf dem sozialdemokratischen Parteitag vom 3. bis 8. Oktober 1898 in Stuttgart hatte Georg von Vollmar Bernsteins These vom friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus vertreten und die revolutionären Sozialdemokraten, besonders Rosa Luxemburg, zu diffamieren versucht.