Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 503

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Gesetzesvorlagen, sondern vor allem auf die allgemeine agitatorische Wirkung der sozialdemokratischen Vertretung an. Die „Münchener Post“ hat vollkommen recht: Die Sozialdemokratie verdankt überall ihre Bedeutung nur „ihrer energischen Arbeit und namentlich ihrer grundsätzlichen Opposition gegen die bürgerlichen Parteien“. Aber ihr Erfolg hängt dabei sehr von den Umständen ab. Wenn indes irgendwo die Verhältnisse dafür geschaffen waren, um der Sozialdemokratie ihre Arbeit, namentlich ihre grundsätzliche Opposition, zu erleichtern, so gerade in dem bisherigen bayerischen Landtag. Wo die beiden bürgerlichen Parteien, gegen die es gilt, in gleicher Weise volksfeindlich, zugleich aber durch ihr Stärkeverhältnis gezwungen sind, zu jedem Werk der Reaktion sich zu koalieren, da tritt der häusliche Streit der beiden bürgerlichen Lager in den Hintergrund, da bilden sie tatsächlich „eine reaktionäre Masse“ dem Volke gegenüber. Da ist es auch ein leichtes, beide bürgerlichen Parteien jedesmal zu entlarven und so den Klassencharakter des Landtages, den sozialen Hintergrund der ganzen bürgerlichen Politik aufs grellste hervorzukehren. Darin war eben die Grundlage für die glänzende Tätigkeit der sozialdemokratischen Fraktion gegeben.

Heute sehen die Dinge anders aus. Durch die Herrschaft des Zentrums und die Niederlage des Liberalismus wird der Gegensatz zwischen beiden wieder verschärft und die frühere klare und deutliche Klassenscheidung in gleichem Maße verdunkelt. Die „Verantwortlichkeit“ für das reaktionäre Regime in Bayern wird nun freilich das Zentrum tragen, allein für die Sache des Klassenbewußtseins war es günstiger, wenn diese Verantwortlichkeit wie bisher vom Zentrum und dem Liberalismus, von der Bourgeoisie als solcher, getragen wurde.

Das Eigenartige bei dem Verfahren der bayerischen Genossen liegt hier also darin, daß sie die Landtagsmandate auf Kosten der allgemeinen Aufklärungsinteressen erworben haben, daß sie also die Mandate nicht lediglich als Mittel zum Zweck, sondern als einen Zweck für sich betrachten.

Aber auch diese eigenartige politische Betrachtungsweise ist nichts speziell mit Bayern Verbundenes. Kam sie auch sonst bei der Sozialdemokratie bis jetzt nicht zur Anwendung, so ist sie dafür wiederum für alle bürgerlichen Parteien in allen Ländern charakteristisch. Das wirklich Eigenartige an dem bayerischen Wahlvorgang: die Erwartung einer Wahlreform von parlamentarischen Kniffen statt von der Volksbewegung und das Jagen nach Mandaten auf Kosten der Volksaufklärung, dies alles hat also bei näheren Zusehen gar nichts speziell Bayerisches an sich, es bilden dagegen

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