Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 502

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keinen einzigen neuen Sitz erobert hätte! Und welche blutige Verhöhnung des verdrehten Wahlmodus vor dem ganzen Lande, wenn einige Wahlkreise trotz wiederholter Wahlhandlungen, wie Vollmar in der Zeitschrift „Die Wage“ sagt, „ganz ohne Vertretung blieben“! Ein solches Ergebnis hätte die Bewegung im Volke für die Wahlreform geradezu imposant in Fluß bringen und so auf die bürgerlichen Parteien einen starken Druck ausüben müssen.

Von demselben Standpunkte hat das Vorgehen der bayerischen Genossen die Sache ungünstiger gestaltet, denn nun haben sie sich doch auf Grund des bestehenden Wahlrechts einen hübschen Zuwachs der Mandate gesichert, und ihre Anklagen dagegen verlieren dadurch einen starken Teil ihrer Überzeugungskraft.

Die bayerischen Genossen haben die Hebel für die Wahlreform in einer entgegengesetzten Richtung angesetzt, nämlich sie erwarten unmittelbar von den bürgerlichen Parteien, daß diese in ihrem eigenen Herrschaftsinteresse, im Interesse der Reaktion, durch das jetzige Wahlergebnis zur Reform gedrängt würden. Während im ersteren Falle die Bewegung im Volke selbst draußen im Lande mächtig gefördert werden konnte, wird hier die Reform von den bürgerlichen Parteien des Landtages, von ihren parlamentarischen Interessen erwartet. Während dort die bürgerlichen Parteien durch den Druck der Volksbewegung zur Reform getrieben werden konnten, sollen sie hier auf dem Umwege ihrer eigenen volksfeindlichen Interessen, durch einen parlamentarischen Kniff dazu bewogen werden.

Mit einem Worte: Statt ausschließlich durch den Druck des Volkes, hoffen die bayerischen Genossen durch parlamentarische Kunststücke das Wahlrecht reformieren zu können. Diese Taktik ist allerdings etwas ganz Eigenartiges. Aber diese Besonderheit hat doch offenbar nichts speziell mit Bayern zu tun. Im Gegenteil, sie ist für die Politik aller bürgerlichen Parteien verschiedener Länder charakteristisch, die gleichfalls das Hauptgewicht ihres politischen Kampfes nicht ins Volk, sondern ins Parlament verlegen.

Es ist ferner tatsächlich etwas Eigenartiges, wenn um den Preis der Stärkung der gegnerischen Partei und der Verschiebung der Machtverhältnisse zuungunsten der agitatorischen Tätigkeit der Sozialdemokratie einige Landtagsmandate erkauft werden. Wir sagen: der Verschiebung der Machtverhältnisse zuungunsten der sozialdemokratischen Agitation. Die bayerischen Genossen verwahren sich freilich dagegen, daß sie im alten Landtag bei wichtigen Entscheidungen das Zünglein an der Waage gebildet hätten. Aber es kommt nicht auf die Abstimmungen, auf die Entscheidung bei

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