Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 557

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/557

versteht jedermann unter dem, was die Partei einigt, eben das von der Partei offiziell angenommene Programm und ihre offiziell akzeptierte und bewährte Taktik. Daß der „Vorwärts“ diese nicht vertritt, haben wir an der Hand der Tatsachen gezeigt. Das Zentralorgan versteht aber unter dem, was die Partei „einigt“, offenbar einen Eiertanz zwischen einander widersprechenden Gesichtspunkten, dem im besten Falle die völlige Meinungslosigkeit zugrunde liegt. Und es sieht demgemäß mit Stolz die glänzendste Bestätigung, daß es „dieser Aufgabe nicht allzu glücklich gedient“ hat, in der Tatsache, daß es niemanden in der Partei befriedigt hat, weder diejenigen, die von ihm die Vertretung des Parteiprogramms und der Parteitaktik fordern, noch diejenigen, die das Programm und die Taktik über den Haufen werfen wollen.

Das ist allerdings eine Glanzleistung des „Vorwärts“, um die ihn sogar der Großmeister im Eiertanz, Herr Lieber, beneiden könnte. Der „Vorwärts“ vergißt aber, daß, während er geradezu die Pflicht hat, die „Unzufriedenheit“ derjenigen, die das Parteiprogramm und die Parteitaktik angreifen, zu erregen, es eine grobe Pflichtverletzung von ihm ist, wenn er den entgegengesetzten Wunsch, die Grundsätze der Gesamtpartei zu vertreten, nicht befriedigt.

Da das Zentralorgan auf diese Weise die Grundsätze der Partei von ihrem Gegenteil nicht zu unterscheiden vermag, so ist es nicht einmal imstande, die verschiedenen in der Partei auftauchenden Streitfragen auch nur auf ihren wirklichen Charakter zu schätzen. So kommt es dazu, die Agrarfrage, in der drei verschiedene Gesichtspunkte zum Ausdruck gekommen sind[1] und die vor allem ein völlig neues, weder theoretisch noch praktisch erprobtes Gebiet der Parteitätigkeit behandelte, ferner die preußische Wahlbeteiligungsfrage[2], die nach wiederholten Erklärungen aller Beteiligten keine prinzipielle, sondern bloß eine Zweckmäßigkeitsfrage war, diese beiden Fragen mit der Schippelschen Milizverhöhnung, mit der Bernsteinschen Verwerfung des Endzieles[3], mit der bayerischen Abstimmung für das Zentrum auf eine Linie zu stellen.

Der „Vorwärts“ bemerkt eben in jedem in der Partei auftauchenden Meinungsstreit nicht die Meinungen, sondern bloß den Streit. Die letzten Jahre des Parteilebens sind ihm bloß eine unterschiedslose Reihe von „Streitigkeiten“, wobei er als „leitendes Zentralorgan“ seine Mission in dem eifrigsten Einigungs- und Versöhnungsbemühen erblickt. Diese glaubt

Nächste Seite »



[1] Auf dem sozialdemokratischen Parteitag 1895 in Breslau hatten sich in der Diskussion über das Agrarprogramm verschiedene Auffassungen gegenübergestanden. Die Revisionisten, vertreten vor allem durch Max Quarck und Eduard David, leugneten die Tendenz zum Großbetrieb und damit die Möglichkeit und Notwendigkeit sozialistischer Vergesellschaftung auf dem Lande. Dieser Auffassung trat besonders Karl Kautsky entgegen, der aber andererseits erklärte, daß als Bundesgenossen nur die proletarisierten Zwergbauern in Frage kommen würden, die unmittelbar für die sozialistische Revolution gewonnen werden müßten. August Bebel wiederum erklärte, daß der Bauer für demokratische Ziele gewonnen werden kann. Die Mehrheit des Parteitages lehnte die Auffassung der Revisionisten in der Agrarfrage ab.

[2] Auf dem sozialdemokratischen Parteitag vom 3. bis 9. Oktober 1897 in Hamburg hatten sich in der Debatte über die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen im wesentlichen zwei Auffassungen gegenübergestanden: Befürwortung und Ablehnung der Beteiligung. Die Mehrheit des Parteitages entschied sich für die Beteiligung an den Landtagswahlen mit der Maßgabe, keine Kompromisse oder Wahlbündnisse mit anderen Parteien einzugehen.

[3] „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus’ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ (Eduard Bernstein Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft. In: Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Erster Band, S. 556.)