Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 813

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/813

Sowohl in ihrer Presse als auch im Parlament und im Landtag verhalten sich fast alle deutschen Parteien entweder geradezu wohlwollend zum Hakatismus oder mit kalter Gleichgültigkeit gegenüber den Verfolgungen des Polentums, oder sie schwingen sich bestenfalls zu einem leisen Murren über die Erscheinungen auf, gegen die jeder gerechte Mensch Blitze schleudern müßte. Die Konservativen und die Liberalen, jene Parteien der Großgrundbesitzer und der Industriemillionäre, knirschen bei jeder Gelegenheit geradezu mit den Zähnen über die Polen und klatschen jedweden Germanisierungsanschlägen der Regierung Beifall. Die sogenannten Freisinnigen verschiedener Schattierungen, d. h. die Vertreter der Handels- und Finanzwelt, begünstigen teilweise im Geiste ebenfalls die Ausrottung des Polentunis, teilweise – um ihre Ehre zu wahren, denn sie nennen sich doch nicht umsonst „Freisinnige“! – knurren sie von Zeit zu Zeit in dieser oder jener kleinen Zeitung über den Hakatismus. Dieses Knurren beachtet die Regierung natürlich genausowenig wie das Bellen eines Hundes. Die katholische Partei schließlich, das sogenannte Zentrum, an welchem sich die Polen in Preußen seit Jahrzehnten festhalten wie ein Betrunkener am Laternenpfahl, dieses Zentrum tut ebenfalls zum Schutze des polnischen Volkes nur so viel, daß es in seinen Zeitungen von Zeit zu Zeit einige scheinbar boshafte Bemerkungen über die Germanisierungsversuche der Regierung und der Hakatisten schreibt. Im Grunde jedoch sind diese Kritiker des Zentrums gewöhnlich sogenannte „Waschlappen“, über die sich die Regierung selbstverständlich insgeheim lustig macht. Wenn der Zentrumspartei tatsächlich und aufrichtig an der Verteidigung der Polen gelegen wäre, so fände sie ein Mittel dafür! Das Zentrum ist doch die stärkste Partei im Parlament, die die meisten, die 107 Abgeordnete zählt. Kein wichtiges Gesetz kann im Parlament gegen den Widerstand des Zentrums durchgebracht werden. So war es zum Beispiel mit dem letzten Projekt der Flottenverstärkung[1], an dem der Regierung so viel gelegen war. Solange die Zentrumspartei die Nase rümpfte und vorgab, daß sie mit dieser neuen Belastung für das arme Volk nicht einverstanden sei, so lange hing die ganze Regierungsvorlage an einem Faden, und die Minister antichambrierten in der Zentrumspartei, um sie mit allen Mitteln zu besänftigen und zur Zustimmung zu bewegen. Wenn nun, angenommen, das Zentrum damals erklärt hätte: Wir sind mit der Flottenverstärkung so lange nicht einverstanden, bis die Regierung feierlich verspricht, daß sie alle weiteren Verfolgungen des polnischen Volkes unterläßt, so hätte die Regierung sicher nachgeben müssen, und die katholische Partei hätte bewiesen, daß ihr die polnische Sache tat-

Nächste Seite »



[1] Am 20. Januar 1900 wurde der Entwurf für das zweite Flottengesetz veröffentlicht, das eine Verdoppelung der im ersten Flottengesetz von 1898 beschlossenen Schlachtflotte vorsah. Das trotz einer breiten Protestbewegung am 12. Juni 1900 angenommene Gesetz diente der weiteren Stärkung der deutschen Kriegsflotte zur Verwirklichung imperialistischer Expansionspolitik.