Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 646

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und um so lebhafter wird das Interesse der Partei an einer freien Ausübung der polnischen Sprache.

Aber noch ein Moment wirkt mit, um die Frage der Germanisierung für uns direkt zu einer wichtigen Parteifrage zu machen, es ist dies die Versammlungspolitik der preußischen Regierung. Bekanntlich sind schon mehrmals polnische Versammlungen in Posen, Westpreußen, Oberschlesien, weil der aufsichtübende Polizeibeamte der polnischen Sprache nicht mächtig war, aufgelöst worden, nach dem Grundsatz, daß, wie man polnisch sagt, nicht die Tabaksdose um der Nase willen, sondern die Nase. um der Tabaksdose willen da ist. Das Oberverwaltungsgericht hat freilich dieses Verfahren mehrmals als ungesetzlich bezeichnet.[1] Allein diese Rechtsentscheidung imponiert den leitenden Staatsmännern Preußens sehr wenig, und Minister von der Recke erklärte im Abgeordnetenhause[2], er werde auch weiterhin in demselben Sinne verfahren, da er nicht genug polnisch sprechende Beamte zur Verfügung habe. Das Interessanteste ist aber, daß der Minister a. D. offen erklärte, die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts seien für ihn nicht maßgebend, höchstens könnten sie eventuell zu einer entsprechenden Änderung der Gesetzgebung Anlaß geben!

Es wird somit nicht nur in der offenen Verfassungsverletzung fortgefahren, sondern die Regierung stellt sogar eine „Korrektur“ der Verfassung im Sinne ihrer gesetzwidrigen Praxis in Aussicht. Es ist klar,

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[1] Neulich hat das Oberverwaltungsgericht, wie die „Märkische Volkszeitung“ mitteilte, in einer aus Halle geführten Klage folgende Entscheidung getroffen:

„Im Artikel 27 der Verfassungsurkunde ist das Recht jedes Staatsbürgers, durch Worte seine Meinung frei zu äußern, ohne Beschränkung in bezug auf den Gebrauch einer bestimmten Sprache anerkannt. Dieses Recht haben die Staatsbürger auch bei Ausübung des ihnen durch Artikel 29 der Verfassungsurkunde gewährleisteten Versammlungsrechts; daß hierbei nur die deutsche Sprache gebraucht werden dürfe, ist nirgends angedeutet, weder in der Verfassungsurkunde noch in dem Vereinsgesetz vom 11. März 1850. Ein polizeiliches Einschreiten gegen Versammlungen kann sich, wenn es lediglich wegen der von der Abhaltung der Versammlungen zu befürchtenden Gefahren erfolgt, nur auf das Vereinsgesetz stützen. Hiernach ist die Polizei befugt, in jede politische Versammlung einige Polizeibeamte zu entsenden. Der Gedanke, daß die Verhandlungen so zu führen seien, daß die Polizeibeamten deren Sinn verstehen können, hat dem Gesetzgeber offenbar ferngelegen und im Gesetz keinen Ausdruck gefunden. Um dem Gange der Verhandlungen folgen zu können, haben die Polizeibeamten Anspruch auf einen angemessenen Platz und auf Auskunft über die Redner. Im übrigen braucht nach dem Gesetz bei den Verhandlungen auf das Verständnis der Polizeibeamten keine Rücksicht genommen zu werden. Es ist vielmehr Sache der Polizei, geeignete Personen, die auch Verhandlungen in polnischer Sprache folgen können, zu senden. Sind solche Personen nicht vorhanden, so wird dadurch das Versammlungsrecht nicht berührt. Anders würde aber die Sache liegen, wenn die fremde Sprache lediglich gebraucht würde, um die Überwachung zu vereiteln. Eine solche Umgehung der Überwachung würde unzulässig sein und kann hier nicht angenommen werden. Eine andere Auslegung des vielleicht unzureichenden Vereinsgesetzes läßt sich nicht rechtfertigen.“

[2] Der Minister des Innern, Eberhard Freiherr von der Recke, hatte während einer Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus im Januar/Februar 1897 eine Interpellation polnischer Abgeordneter zur Polenpolitik der Regierung zurückgewiesen und versucht, die nationale Unterdrückung der Polen zu rechtfertigen.