Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 265

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Nicht zum erstenmal in der Geschichte beobachtet man diese Erscheinung, daß die Militärgewalt, dieses zur Verteidigung, zum Dienste des gesellschaftlichen Gesamtorganismus geschaffene Organ, ein selbständiges Dasein zu führen beginnt, sich gegen die eigene Gesellschaft wendet und auf ihre Kosten ihr Leben fristet. Dieses Schauspiel bietet uns das alte Rom in den letzten Jahrhunderten, wo das Prätorianerheer sich zum Herrscher des Staates aufwarf, Kaiser auf den Thron setzte und stürzte, das Land wie ein feindliches verheerte und plünderte. Dasselbe Bild sehen wir im alten Polen bereits im 17. Jahrhundert, wo das Heer ärger als die Türken im Lande wirtschaftete, auswärtige Politik auf eigene Faust trieb, zum Schrecken der Zivilgewalt und der ganzen Gesellschaft wurde. Und jedesmal ist diese Erscheinung ein sicheres, unfehlbares Zeichen der Zersetzung der gegebenen Gesellschaft. Jeder gesellschaftliche Körper funktioniert normal nur so lange, als seine verschiedenen Organe ihre Funktion regelmäßig verrichten und sich namentlich dem Ganzen unterordnen. Geht aber die Gesellschaft ihrem Verfall entgegen, so äußert sich dies vor allem darin, daß die einzelnen Organe und in erster Reihe das Organ der äußeren Verteidigung, die Armee, zu einer eigenen Macht ausartet und, statt der Gesellschaft zu dienen, sich gegen sie richtet und ihre Zersetzung beschleunigt. Die Verselbständigung der Interessen der Armee bedeutet aber, da sie als solche keine besonderen, in der materiellen Gliederung der Gesellschaft begründeten Interessen tatsächlich hat, nichts anderes als die Korruption, das Cliquenwesen, das Auswuchern niedrigster Privatinteressen im Heere.

Diese Erscheinung sehen wir auch in dem gegenwärtigen Frankreich. Die Dreyfus-Affäre[1] hat nur deshalb eine so enorme Bedeutung gewonnen, weil sie wie ein Abszeß die politische und moralische Eiterung, welche in der französischen Armee Platz gegriffen hat, nach außen zum Ausdruck brachte. Und wenn gerade in Frankreich die Korruption der Armee so weit vorgeschritten ist wie in keinem anderen der kapitalistischen Länder, so ist das u. a. ein Ergebnis der republikanischen Staats-

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[1] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.