Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 266

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form Frankreichs, welche einerseits die Trennung der Zivilgewalt von der Militärgewalt am reinsten vollzieht und andererseits als die adäquate politische Form der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft auch die Zersetzung dieser Gesellschaft beschleunigt.

Der frech ihr Haupt erhebenden Militärgewalt steht nun das heutige bürgerliche Frankreich völlig machtlos gegenüber. Der agrarische Teil ebenso wie die hohe Finanz, von vornherein und seit jeher monarchisch gesinnt, sehen in der Auflehnung des Militarismus direkt Vorschubdienste für ihre republikfeindlichen Pläne. Die große Masse der Bourgeoisie aber, die Partei der Geldsackrepublikaner, ist selbst durch tausend Fäden – durch Familienbande, durch die Gemeinsamkeit der Korruption, vor allem aber durch die Furcht vor dem Proletariat – dermaßen an die Armee gebunden, daß sie keinen Schlag gegen die drohende Gefahr der Militärdiktatur führen kann, ohne sich selbst Wunden zu schlagen.

Diese Lage der Dinge ist es, die periodisch die kleinbürgerliche radikale Partei ans Ruder bringt. Selbst ein Zwitterding, ein Mittelgebilde zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat, ist sie durch die Zersetzung der Bourgeoisie einerseits und die Machtlosigkeit des Proletariats andererseits dazu berufen, die bürgerliche Republik vor ihrem Untergange an der eigenen Haltlosigkeit zu retten. Die Gefahr des Panamaskandals[1] brachte das Kabinett Bourgeois, die Dreyfus-Affäre das Kabinett Brisson zur Macht. Aber gerade jener Zwittercharakter des kleinbürgerlichen Radikalismus, der ihm periodisch die Rolle des Retters der Republik zuweist, macht es ihm anderseits unmöglich, sich der Rolle gewachsen zu zeigen. Für die Bourgeoisie ist er mit seinem Programm der Sozialreform zu radikal, zu wenig bürgerlich, für ihn ist das Proletariat zu revolutionär. Kommt er deshalb zur Aktion, so verrät immer die Bourgeoisie die radikale Regierung, und die Radikalen verraten das Proletariat. Eine feste Majorität im Parlament kann daher die radikale Partei nicht haben, sie hält sich nur dank zufälligen Majoritäten und parlamentarischen Kniffen über Wasser. Das innere Gefühl der eigenen Ohnmacht hat aber jene schwächliche, schwankende, feige Haltung der radikalen Regierungen zur Folge, mit der sie sich regelmäßig binnen kurzer Frist selbst zugrunde richten. Der heutige kleinbürgerliche Radikalismus ist noch ganz, was er vor einem halben Jahrhundert war, als ihn Marx in sei-

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[1] 1892 war im Zusammenhang mit dem Ruin der französischen Panamagesellschaft von 1888/89 eine parlamentarische Bestechungsaffäre aufgedeckt worden, durch die eine große Anzahl führender Politiker belastet wurde. Tausende von Kleinaktienbesitzern, die zur Finanzierung des Baus des Panamakanals aufgerufen worden waren, wurden um ihre Ersparnisse gebracht.