Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 591

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fahren etc. bestehen für unsere Regierung nicht. Uferlos im buchstäblichen Sinne sind ihre Flottenpläne.

Ist dem aber so, welchen Wert haben dann die jedesmaligen Begründungen der Regierungsvorlagen? Welchen Wert haben ihre jedesmaligen Versicherungen: Nun haben wir das Notwendige erreicht? Welchen Wert hat ihr Wort, wenn sie sich durch ein Gesetz wenigstens für einige Zeit für befriedigt und für gebunden erklärt?

Wahrlich, keine Regierung arbeitete je so fleißig darauf hin, ihre eigene Autorität in den Augen des Volkes zu untergraben, ihren Worten den Glauben zu nehmen, sich zu blamieren und herunterzusetzen. Nach dem Zuchthausmißerfolge im Reichstag[1] – die Kanaltragikomödie im Landtag[2], nach dieser – der neue Flottenplan mit einer solchen Begründung.

Was hat denn, nach der Meinung der Regierung, seit 1898 den Gedanken einer weiteren Flottenvermehrung so populär in Deutschland gemacht? Man höre und staune: der spanisch-amerikanische Krieg![3] Aus diesem Kriege, in dem eine verlotterte, bankrotte, nichtswürdige Regierung ihren verwahrlosten und bis auf das Blut ausgepumpten Kolonialbesitz verloren hat, aus diesem Kriege soll Deutschland gelernt haben, daß es seinerseits zur Verteidigung seiner „Kolonien“ schleunigst die Flotte verdoppeln muß! Dies ist die ganze „Begründung“? Das also war des Pudels Kern bei der neuen Flottentollheit? Der Kasus wird zwar den deutschen Steuerzahler kaum lachen machen, aber auch die Regierung wird hoffentlich keinen Grund zur Heiterkeit haben. Mit diesen Enthüllungen über ihre eigentlichen Flottenpläne, über den Wert ihrer eigenen Versicherungen und Begründungen bringt sie sich um den Rest des Vertrauens. Die vertrauensduseligste Schlafmütze muß angesichts der letzten Vorgänge stutzig werden. Und die arbeitenden Klassen werden eine gute Lehre wenigstens aus dem neuen Flottenplan ziehen: Sagt die Regierung selbst, daß sie bei ihren weltpolitischen Gelüsten nur der Unmut und die Gleichgültigkeit der bewilligenden Volksvertreter im Zügel halten, dann sollen die Zügel auch straff angezogen werden. Den Volksvertretern aller Parteien muß deutlich klargemacht werden, daß ihre Wähler von einer neuen Flottenvorlage nichts wissen wollen – vor wie nach dem spanisch-amerikanischen Krieg!

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 256 vom 4. November 1899.

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[1] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. Dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, den der „Vorwärts“ am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.

[2] Mitte März 1899 war im preußischen Landtag von der Regierung, unterstützt von den Liberalen sowie von Industrie- und Militärkreisen, eine Vorlage zum Bau eines Verbindungskanals zwischen Rhein, Ems, Weser und Elbe eingebracht, von ostelbischen Agrariern im August 1899 aber zu Fall gebracht worden, da sie ein Sinken der Getreidepreise infolge billiger Einfuhrmöglichkeiten und die Abwanderung der Landbevölkerung in die Industriezentren befürchteten und gleichzeitig auf die Zollpolitik Druck ausüben wollten.

[3] Im Ergebnis des spanisch-amerikanischen Krieges von April bis Dezember 1898, des ersten imperialistischen Krieges um die Neuverteilung der Welt, verstärkten die USA ihren Einfluß in Lateinamerika, erweiterten ihr Kolonialreich durch Kuba, Puerto Rico und Guam und eroberten mit den Philippinen eine strategisch wichtige Militärbasis in Ostasien.