Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 232

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Proletariat an seiner empfindlichsten Stelle treffen soll – der Feldzug gegen das Koalitionsrecht.[1] Endlich die geplante Wiederbelebung des Gespenstes der Heiligen Allianz aller europäischen Mächte gegen die internationale Arbeiterbewegung unter dem Vorwande einer antianarchistischen Hetzjagd.[2] Wir gehören nicht zu den Heißspornen, die alle Augenblicke den Morgenhauch der Revolution wittern. Aber wenn man das ganze Bild des gegenwärtigen politischen Lebens in Deutschland überblickt, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Zeit schon etwas von dem heißen Hauch des verzweifelten Ringens atmet, das gewöhnlich den Anfang vom Ende bedeutet. Die Gegner schlagen wütend und blind um sich, und ihre Hand leitet nur noch die Furcht. Wir leben in einer ernsten Zeit und gehen noch ernsteren Zeiten entgegen. Die Arbeiterklasse Deutschlands hat allen Grund, die Beratungen des sozialdemokratischen Parteitags mit der größten Aufmerksamkeit zu verfolgen.

Die Sozialdemokratie ist sich ihrerseits der Wichtigkeit des Moments und der Größe ihrer Aufgaben voll bewußt, es zeugen davon schon die Tagesordnung des Parteitages und namentlich die bis jetzt von allen Seiten aus der Partei gestellten Anträge. Mit großer Genugtuung konstatieren wir, daß diesmal nichtige und kleinliche oder mit der eigentlichen Arbeitersache nicht viel gemein habende Anträge, wie sie bis jetzt gewöhnlich zu den Parteitagen hier und da gestellt worden waren – z. B. über den Impfzwang, über den Austritt aus der Landeskirche etc. –, diesmal gänzlich unterblieben sind. Die einzigen Fragen, auf die sich alle bis jetzt gestellten Anträge beziehen, sind: Landtagswahlen, Militarismus, Zoll- und Kolonialpolitik, allgemeine Taktik, Koalitionsrecht, Agrarfrage, Arbeiterschutz, der 1. Mai. Die Partei hat sich bei der Aufstellung ihrer Wünsche an den Parteitag nur mit ernsten Fragen befaßt und nur von

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[1] Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, Staatssekretär im Reichsamt des Innern, hatte am 11. Dezember 1897 an die Regierungen der deutschen Einzelstaaten ein geheimes Rundschreiben gesandt, in dem er Vorschlage für gesetzliche Maßnahmen gegen das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit forderte. Der deutschen Sozialdemokratie war es gelungen, das Geheimdokument in die Hand zu bekommen. Sie veröffentlichte es am 15. Januar 1898 im „Vorwärts“. Am 6. September 1898 kündigte Wilhelm II. in einer Rede in Oeynhausen die für 1899 vorgesehene Gesetzesvorlage, bekannt geworden als „Zuchthausvorlage“, an.

[2] Unmittelbar nach dem Attentat eines Anarchisten auf die Kaiserin Elisabeth von Österreich am 10. September 1898 hatte die italienische Regierung Vertreter der europäischen Staaten für den 24. November 1898 zu einer Konferenz nach Rom eingeladen, um ein detailliertes System gemeinsamer Verteidigung gegen den Anarchismus auszuarbeiten.