Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 653

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aus der Possibilistengruppe hervorgegangene Richtung) nahmen tatsächlich an der parlamentarischen Aktion gleich anderen Parteien teil. In der Förderung der Gewerkschaften wetteiferten Guesdisten mit Allemanisten. Und hatten die Guesdisten – die stärkste und einflußreichste Partei – vor allen anderen die wissenschaftliche Marxsche Lehre voraus, so zeigten andererseits ihr Agrarprogramm und ihre Wahlkompromisse, daß auch sie, gleich den übrigen Parteien, in gegebenen Augenblicken Gegenwartserfolge über das abstrakte Prinzip zu stellen wußten.

Auf diese Weise ließ sich das Fehlen der sozialistischen Einigkeit bis in die 90er Jahre hinein in Frankreich viel weniger fühlen, als theoretisch und besonders vom Standpunkte der deutschen Verhältnisse gedacht werden mag. Wir sehen dementsprechend auch bis vor kurzem keine der alten Parteien einen ernsten auf die Einigung gerichteten Versuch machen. Während in Deutschland die Lassalleaner und die Eisenacher beständig in heftiger Fehde lagen, worin das Abnorme der Spaltung zutage trat, räumten in Frankreich die Einzelgruppen, unbeschadet der Reibungen, einander das volle Daseinsrecht ein. Die Erklärung Guesdes auf dem Einigungskongreß, es bestehe unter den Einzelorganisationen eine Arbeitsteilung, die ihr Daseinsrecht begründe, ist ein deutlicher Ausdruck dieser Zustände. Die Zersplitterung hatte sich eine Art Legalität erworben. Und hier lag zuletzt gerade das Gefährliche der Situation.

Es war klar, daß das Einigungsproblem auf einem toten Punkt angelangt war. Wären nicht äußere Wirkungen hinzugetreten, die alten Parteiorganisationen hätten von innen heraus die Einigung in absehbarer Zeit nicht durchführen können. Ja noch mehr! Der Waffenstillstand unter den Einzelorganisationen, von denen jede unbekümmert um andere ihren Aufgaben nachging, war in den jüngeren Stadien der französischen Arbeiterbewegung zweifellos ein großer Vorteil. Von einem bestimmten Zeitpunkt an hätte er nicht nur in der Einigungsfrage, sondern auch in der Agitation selbst zur Stagnation, zum Drehen im Kreise bestimmter Kampfformen führen müssen.

Aber die ruhige, jahrzehntelange Entwicklung des Sozialismus im Schoße der Einzelorganisationen selbst hat im Zusammenhang mit äußeren hinzugetretenen Momenten auf einem gewissen Höhepunkt den Umschlag in neue Kampfformen notwendig gemacht, denen die Einzelorganisationen als solche nicht gewachsen waren.

Solange sich nämlich die sozialistische Arbeit in der prinzipiellen Propaganda im Lande und auf der Parlamentstribüne, im Ausbau der Gewerkschaften und in dem Munizipalsozialismus erschöpfte, konnten die Einzel-

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