Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 484

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/484

sten in die bürgerliche Regierung sogar ein natürliches Ergebnis der demokratischen Entwicklung der bürgerlichen Staaten, ganz entsprechend ihrer angeblichen Annäherung zur sozialistischen Mehrheit in den gesetzgebenden Körpern. Stimmt der Fall auf diese Weise mit der opportunistischen Theorie, so entspricht er nicht minder der opportunistischen Praxis. Da die Erzielung naheliegender, greifbarer Erfolge, gleichviel auf welchem Wege, die leitende Linie dieser Praxis bildet, so muß der Eintritt eines Sozialisten in die bürgerliche Regierung dem „praktischen Politiker“ als ein unschätzbarer Erfolg erscheinen. Was kann nicht ein sozialistischer Minister alles an kleinen Besserungen, Linderungen, an allerhand sozialem Flickwerk durchführen!

Anders stellt sich die Frage dar, wenn man von dem Standpunkte ausgeht, daß die Einführung des Sozialismus erst nach dem Zusammenbruch der kapitalistischen Ordnung in Angriff genommen werden kann und daß die sozialistische Tätigkeit sich gegenwärtig bloß auf die – objektive und subjektive – Vorbereitung dieses Moments durch den Klassenkampf reduziert. Es ist freilich Tatsache, daß die Sozialdemokratie, um praktisch zu wirken, alle erreichbaren Positionen im gegenwärtigen Staate einnehmen, überall vordringen muß. Allein als Voraussetzung gilt dabei, daß es Positionen sind, auf denen man den Klassenkampf, den Kampf mit der Bourgeoisie und ihrem Staate führen kann.

In dieser Beziehung besteht aber zwischen den gesetzgebenden Körpern und der Regierung eines bürgerlichen Staates ein wesentlicher Unterschied. In den Parlamenten können die Arbeitervertreter, wo sie mit ihren Forderungen nicht durchdringen können, sie doch wenigstens in der Weise vertreten, daß sie in oppositioneller Stellung verharren. Die Regierung hingegen, die die Ausführung der Gesetze, die Aktion, zur Aufgabe hat, hat keinen Raum in ihrem Rahmen für eine prinzipielle Opposition, sie muß in allen ihren Gliedern und stets handeln, sie muß deshalb, auch wenn sie, wie in Frankreich seit einigen Jahren in den gemischten Ministerien, aus verschiedenen Parteivertretern besteht, doch stets einen grundsätzlich gemeinsamen Boden unter den Füßen haben, der ihr das Handeln ermöglicht, den Boden des Bestehenden, mit einem Wort, den Boden des bürgerlichen Staates. Der äußerste Vertreter des bürgerlichen Radikalismus kann im großen und ganzen mit dem rückständigsten Konservativen Seite an Seite regieren. Ein prinzipieller Gegner des Bestehenden hingegen steht vor der Alternative: entweder auf Schritt und Tritt der bürgerlichen Mehrheit in der Regierung Opposition zu machen, d. h., tatsächlich kein aktives Mitglied der Regierung zu sein – ein augenscheinlich unhaltbarer Zustand,

Nächste Seite »