Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 485

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der zur Entfernung des sozialistischen Mitgliedes aus der Regierung führen müßte –, oder aber die Sache schließlich mitzumachen, die täglich und stündlich zur Erhaltung und zum Fortlauf der Staatsmaschine in jedem Regierungszweig notwendigen Funktionen zu verrichten, d. h., tatsächlich kein Sozialist, wenigstens nicht in den Grenzen des Regierungsamtes, zu sein.

Die Sozialdemokratie hat allerdings in ihrem Programm viele Forderungen, die auch von einer bürgerlichen Regierung ebenso wie von einem bürgerlichen Parlament – wenigstens abstrakt gesprochen – angenommen werden könnten. Es könnte deshalb auf den ersten Blick vorkommen, daß ein Sozialist auch in der Regierung ebensogut wie im Parlament der Sache des Proletariats dienen kann, indem er das Mögliche und Erreichbare der Sozialreformen zu seinen Gunsten durchzudrücken strebt. In diesem Fall zeigt sich aber wiederum, was die opportunistische Politik stets außer acht läßt, daß es bei dem sozialdemokratischen Kampf in erster Linie nicht auf das Was, sondern auf das Wie ankommt. Wenn die sozialdemokratischen Vertreter in den gesetzgebenden Körpern soziale Reformen durchzuführen suchen, so haben sie volle Möglichkeit, durch ihre gleichzeitige Opposition gegen die bürgerliche Gesetzgebung und die bürgerliche Regierung im ganzen – was sich handgreiflich unter anderem in der Ablehnung des Budgets äußert – auch ihrem Kampfe um die bürgerlichen Reformen einen prinzipiell sozialistischen Charakter, den Charakter des proletarischen Klassenkampfes zu verleihen. Ein Sozialdemokrat hingegen, der dieselben Sozialreformen als Mitglied der Regierung, das heißt bei gleichzeitiger aktiver Unterstützung des bürgerlichen Staates im ganzen, anstrebt, reduziert tatsächlich seinen Sozialismus im allerbesten Fall auf bürgerliche Demokratie oder bürgerliche Arbeiterpolitik. Während daher das Vordringen der Sozialdemokraten in die Volksvertretungen zur Stärkung des Klassenkampfes, also zur Förderung der Sache des Proletariats führt, kann ihr Vordringen in die Regierungen nur die Korruption und Verwirrungen in den Reihen der Sozialdemokratie zum Ergebnis haben. Die Vertreter der Arbeiterklasse können, ohne ihre Rolle zu verleugnen, nur in einem Falle in die bürgerliche Regierung treten: um sich ihrer gleichzeitig zu bemächtigen und sie in die Regierung der herrschenden Arbeiterklasse zu verwandeln.

Es kann allerdings in der Entwicklung oder vielmehr in dem Untergang der kapitalistischen Gesellschaft Augenblicke geben, wo die endgültige Machtergreifung durch die Vertreter des Proletariats noch unmöglich wäre, ihr Anteil an der bürgerlichen Regierung aber als notwendig erschiene,

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