Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 482

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Um der Sache des Sozialismus zu dienen, müssen aber nicht die deutschen Gewerkschaften in die Fußstapfen der englischen, sondern umgekehrt die englischen in die Fußstapfen der deutschen treten, die „englische Brille“ paßt also nicht für Deutschland, nicht deshalb, weil die englischen Verhältnisse fortschrittlicher, sondern weil sie – vom Standpunkt des Klassenkampfes – rückschrittlicher als die deutschen sind.

Ferner, wenn wir uns von der subjektiven Bedeutung der Gewerkschaften für den Sozialismus, von ihrer Einwirkung auf das Klassenbewußtsein, zu ihrer objektiven Bedeutung, zu der „wirtschaftlichen Macht“, wenden, die sie nach der opportunistischen Theorie der Arbeiterschaft in die Hände geben und womit sie die Macht des Kapitals brechen soll, so erweist sich auch diese als ein Märchen, und zwar „ein Märchen aus alten Zeiten“. In England selbst gehört die unerschütterliche wirtschaftliche Macht der Gewerkschaften, ganz abgesehen von allem, womit sie erkauft wurde, zum großen Teil der Vergangenheit an. Sie hängt, wie wir gesehen, mit einer ganz bestimmten, und zwar ausnahmsweisen Periode des englischen Kapitalismus, mit seiner ungeteilten Herrschaft auf dem Weltmarkt, zusammen. Diese Periode, die einzig durch ihre Stabilität und Prosperität den Boden des Trade-Unionismus in seiner eigentlichen Blütezeit bildete, wird sich aber weder in England noch in irgendeinem anderen Lande wiederholen.

Könnte und wollte die deutsche Arbeiterbewegung sogar, den opportunistischen Ratschlägen folgend, um der „wirtschaftlichen Macht“ willen die „Freßlegende“, d. h. ihren sozialistischen Charakter fallenlassen und in die Fußstapfen des englischen Trade-Unionismus treten, sie würde nimmermehr seine ehemalige wirtschaftliche Macht erringen können. Aus einem einfachen Grunde: weil sich der wirtschaftliche Boden des alten Trade-Unionismus durch keinen Opportunismus künstlich hervorzaubern läßt.

Als was erweist sich also die „englische Brille“ Bernsteins, alles zusammengenommen? Als ein Hohlspiegel seiner Auffassungsweise, worin alle Erscheinungen auf dem Kopfe stehen. Was er für das kräftigste Mittel des sozialistischen Kampfes hinnimmt, war in Wahrheit geradezu ein Hindernis für den Sozialismus, und was er für die Zukunft der deutschen Sozialdemokratiehält, ist die immer mehr schwindende Vergangenheit der englischen Bewegung in ihrem Entwicklungsgang zur Sozialdemokratie.

Leipziger Volkszeitung,

I: Nr. 105 vom 9. Mai 1899,

II: Nr. 106 vom 10. Mai 1899.

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