Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 481

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Aus der von uns in allgemeinen Zügen umrissenen Geschichte des englischen Trade-Unionismus lassen sich für die Auseinandersetzung mit Bernstein und seinen Anhängern dreierlei Schlußfolgerungen ziehen.

Vor allem erscheint der Gedanke von der unmittelbaren Bedeutung der Gewerkschaften für den Sozialismus als vollkommen falsch. Gerade die englische Gewerkschaftsbewegung, auf die man sich dabei beruft, verdankt zum großen Teil ihre in der Vergangenheit errungenen Erfolge ihrem rein bürgerlichen Charakter, ihrer Gegnerschaft gegen den sozialistischen „Utopismus“. Die Geschichtsschreiber des Trade-Unionismus, S. und B. Webb, stellen es wiederholt und ausdrücklich selber fest, daß die gewerkschaftliche Bewegung in England in dem Maße jedesmal scheiterte, als sie mit sozialistischen Ideen durchtränkt war, und umgekehrt in dem Maße Erfolge verzeichnete, als sie sich verengte, verflachte, vom Sozialismus frei machte.[1]

Gerade der englische Trade-Unionismus, als dessen klassischer Vertreter der satte, korrekte, engherzige, beschränkte, bürgerlich denkende und empfindende Arbeiter-Gentleman erscheint, beweist also, daß die gewerkschaftliche Bewegung an und für sich noch gar nichts Sozialistisches ist, ja daß sie unter Umständen ein direktes Hindernis für die Verbreitung des sozialistischen Bewußtseins sein kann, sowie auch umgekehrt das sozialistische Bewußtsein unter Umständen ein Hindernis für rein gewerkschaftliche Erfolge sein kann.

In Deutschland wie auf dem ganzen Festland sind die Gewerkschaften von vornherein auf dem Boden des Klassenkampfes, und zwar des sozialistischen Kampfes entstanden, vielfach unmittelbar als eine Schöpfung, ein Kind der Sozialdemokratie (siehe Belgien und Österreich). Sie sind hier im voraus der sozialistischen Bewegung untergeordnet und können auf Erfolge – ganz im Gegenteil zu England – nur in dem Maße rechnen, wie sie sich auf den sozialistischen Klassenkampf stützen und von ihm geschirmt werden (siehe die jetzige sozialdemokratische Aktion in Deutschland zum Schutze des Koalitionsrechts). Die Gewerkschaften Deutschlands (wie des Festlandes überhaupt) sind von diesem Standpunkte, vom Standpunkte der Emanzipationsbestrebungen des Proletariats, trotz ihrer Schwäche und zum Teil im Zusammenhang mit dieser Schwäche fortschrittlicher als die englischen. Das Verweisen auf das englische Beispiel gleicht dem Rat an die deutschen Gewerkschaften, den Boden des sozialistischen Klassenkampfes zu verlassen und sich auf bürgerlichen Boden zu stellen.

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[1] Vgl. z. B. Webb: Geschichte der Gewerkvereine, S. 121, 142; Webb: Theorie und Praxis der englischen Gewerkschaften, I, S. 213 u. a. [Fußnote im Original]