Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 480

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matischen Durchbrechung der Schiedssprüche seitens des Unternehmertums schwindet aber der Boden für das ganze Einigungs- und Schlichtungsverfahren, das die Blütezeit des englischen Trade-Unionismus begleitete, und mit ihm – der „soziale Frieden“. Diese Wandlung wurde vor einigen Jahren offiziell anerkannt durch die Aufhebung der Gesetze von 1867 und 1872, wonach alle Konflikte zwischen Kapital und Arbeit obligatorisch durch Einigungsverfahren beigelegt werden sollten. Zugleich ist mit dem stetig guten Geschäftsgang und der Stabilität in der Lage des Arbeiters auch die Möglichkeit verschwunden, die Gewerkschaften so kunstvoll aufzubauen und ihren verwickelten Mechanismus so regelmäßig und glatt funktionieren zu lassen wie ehedem. Dieser kunstvolle Mechanismus und spezialisierte Bürokratismus der Gewerkschaften wird mit dem Wegfall der gleitenden Lohnlisten und des ständigen Einigungsverfahrens auch zum größten Teil ganz zwecklos. Alle in den letzten anderthalb Jahrzehnten gegründeten Gewerkschaften zeichnen sich vor den älteren durch eine große Einfachheit ihrer Organisation und Funktion aus, sie nähern sich darin den Gewerkschaften des Kontinents. Indem aber das gütliche Schlichtungsverfahren immer unwirksamer wird, werden die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit immer mehr zu Machtfragen, wie wir sie in dem Maschinenbauerausstande[1] und in dem walisischen Kohlenarbeiterstreik[2] sahen. Der „soziale Frieden“ weicht auch in England dem sozialen Krieg – dem Klassenkampf, die Gewerkschaften werden nach und nach aus Organisationen zur Sicherung des industriellen Friedens zu Kampforganisationen nach dem Vorbild der deutschen, französischen, österreichischen Gewerkschaften.

Zwei wichtige Symptome aus der allerletzten Zeit zeigen, daß man sich ebenso bei der englischen Bourgeoisie wie bei dem englischen Proletariat der Wandlung bewußt ist und zum ernsten Klassenkampf rüstet. Es ist dies bei dem Unternehmertum der Bund zur Bekämpfung der parlamentarischen Aktion der Gewerkschaften, bei der Arbeiterschaft das Wiederauftauchen der Idee eines allgemeinen Arbeiterbundes, die den Kapitalisten und den Gewerkschaftlern alter Schule, den Anhängern des „sozialen Friedens“, gleich verhaßt ist, bei der Masse des englischen Proletariats aber das Bedürfnis nach einer Zusammenfassung, das Erwachen des Klassenbewußtseins im wirklichen Sinne dieses Wortes deutlich verrät.

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[1] Von Juli 1897 bis Januar 1898 streikten etwa 70 000 Maschinenbauarbeiter Englands für eine achtstündige Arbeitszeit. Trotz der starken Solidaritätsbekundungen der englischen und deutschen Arbeiterbewegung endete der Streik mit einer Niederlage.

[2] Am 1. April 1898 begann der Streik von etwa 100 000 Kohlenarbeitern in Südwales für eine 20prozentige Lohnerhöhung. Er mußte jedoch am 1. September 1898 ergebnislos abgebrochen werden, da die finanziellen Mittel der Streikenden erschöpft waren.