Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 58

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Verhältnissen der fraglichen Erscheinung und von unseren allgemeinen Grundsätzen.

Wie liegen nun vor allem die Verhältnisse in bezug auf die uns hier interessierenden nationalen Kämpfe in der Türkei? In einem Teil der Presse wurde noch kürzlich die Türkei als ein Schlaraffenland dargestellt, wo die „verschiedenen Nationalitäten jahrhundertelang friedlich nebeneinanderlebten“, „die vollständigste Autonomie besaßen“ und wo erst die Einmischung der europäischen Diplomatie die Unzufriedenheit künstlich geschaffen hat, indem sie den glücklichen Völkern der Türkei einredet, daß sie unterdrückt seien, und zugleich das unschuldige Lamm von Sultan verhindert, seine „wiederholt bewilligten Reformen“ durchzuführen.[1]

Diese Behauptungen beruhen auf einer weitgehenden Unkenntnis der Verhältnisse.

Bis zu Anfang unseres Jahrhunderts war die Türkei ein naturalwirtschaftliches Land, wo jede Nationalität, jede Provinz, jede Gemeinde ihr eigenes abgeschlossenes Leben lebte, das angewohnte Elend geduldig ertrug und die wahre Grundlage für eine orientalische Despotie bildete. Diese Verhältnisse, sosehr sie drückend waren, zeichneten sich jedoch durch eine große Stabilität aus und konnten daher lange Zeit bestehen, ohne Revolten seitens der unterjochten Völker hervorzurufen. Seit dem Anfang des Jahrhunderts hat sich dies alles stark verändert. Durch den Zusammenstoß mit der Militärmacht der starken, zentralisierten Staaten Europas erschüttert, besonders aber von Rußland bedroht, sah sich die Türkei gezwungen, Reformen bei sich einzuführen, und dieses Bedürfnis verschaffte sich auch in der Person Mahmuds II. seinen ersten Träger. Die Reformen schafften die feudalistische Verwaltung ab und führten an ihrer Stelle eine zentralisierte Bürokratie, ein stehendes Heer und ein neues Finanzsystem ein. Die modernen Reformen waren, wie immer, vor allem mit enormen Kosten verbunden, und in die Sprache der materiellen Interessen der Bevölkerung übersetzt, kamen sie auf eine kolossale Erhöhung der öffentlichen Lasten hinaus. Hohe indirekte Steuern, von jedem einzelnen Viehstück und jedem Strohhalm erhoben, Zölle, Stempel- und Branntweinsteuer, ein Regierungszehnt mit einem periodischen „Viertelzuschlag“, dann eine direkte Einkommensteuer, die bis 30 Prozent in der Stadt und 40 Prozent auf dem Lande beträgt, dabei eine Militärdienstersatzsteuer für Christen, endlich noch öffentliche Frondienste – das war es, womit das Volk die

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[1] Nunmehr heißt es ja umgekehrt, der Sultan sei an allem schuld. So wird aus dem „Opfer“ – der Sündenbock. Die Leser werden aus den weiter folgenden Ausführungen die Überzeugung gewinnen, daß es sich überhaupt nicht um die Person handelt, sondern um die Verhältnisse. Die Red. [Fußnote im Original]