Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 59

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Kosten des reformierten Staates nunmehr zu bestreiten hatte. Einen wirklichen Begriff von der Größe der getragenen Lasten gibt aber erst das eigentümliche Verwaltungssystem der Türkei. In seltsamer Mischung moderner und mittelalterlicher Prinzipien besteht es aus einer Unzahl von Behörden, Höfen, Räten, die äußerst zentralisiert, in ihrem Tun und Lassen an die Hauptstadt gebunden sind; sämtliche öffentliche Posten sind jedoch gleichzeitig de facto käuflich und nicht vom Verwaltungszentrum aus bezahlt, sondern meist auf Einkünfte von der örtlichen Bevölkerung angewiesen – eine Art bürokratischer Benefizien. So darf der Pascha die Provinz nach Herzenslust rupfen, wenn er nur eine möglichst große Geldsumme nach dem Stambul schickt; so ist der Kadi (Richter) von Amts wegen auf Erpressungen angewiesen, da er selbst noch einen jährlichen Tribut nach Konstantinopel für sein Amt zahlen muß. Am wichtigsten ist aber das Steuersystem, welches, in den Händen eines Mülterim, Steuerpächters, liegend, neben dem der Generalintendant des Ancien régime noch als ein barmherziger Samariter erscheint, auf eine gänzliche System- und Regellosigkeit, auf eine schrankenlose Willkür hinausgeht. Endlich verwandelten sich auch die öffentlichen Frondienste in den Händen der Bürokratie in ein Mittel der zügellosen Erpressung und Ausbeutung des Volkes.

Eine so beschaffene Verwaltung unterscheidet sich offenbar von der europäischen grundsätzlich. Während bei uns die Zentralregierung das Volk rupft und daraus ihr Beamtentum unterhält, rupft hier umgekehrt das Beamtentum auf eigene Faust das Volk und unterhält daraus die Zentralregierung. Das Beamtentum erscheint somit in der Türkei als eine besondere, zahlreiche Bevölkerungsklasse, welche in eigener Person unmittelbar einen ökonomischen Faktor darstellt und in ihrer Existenz auf die berufsmäßige Ausplünderung des Volkes angewiesen ist.

Gleichzeitig und im Zusammenhang mit den Reformen erfolgte eine Verschiebung in den Grundbesitzverhältnissen der christlichen Bauern, wiederum stark zu ihren Ungunsten, nämlich in dem Verhältnis zum türkischen Grundbesitzer. Dieser, in der Regel ein ehemaliger Lehnherr, hat ganz nach christlichen Mustern sein Amt erblich zu machen gewußt. Als durch die Reform die Spahiluks (Lehen) aufgehoben wurden und der von ihnen bis dahin an den Spahi entrichtete Zehnte nach der Staatskasse überführt wurde, suchte er sich in dem Charakter des Grundeigentümers zu behaupten, wodurch für den Bauern neben dem alten Zehnten eine neue Last – die Grundrente – erwuchs, die regelmäßig ein Dritteil des Reinertrages nach Abzug des Zehnten beträgt. Dem christlichen Bauern blieb

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