Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 100

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Das Werk war getan. Die Bourgeoisie hatte die Führerschaft in der Gesellschaft, der Literatur, der Presse gewonnen und obendrein noch einen aufrichtigen Glauben an den eigenen Idealismus. Das einstige fremde Aschenbrödel wurde zur Hauptperson im Lande. Und als echter Parvenü konnte sich der Bourgeois die kleine Freude nicht versagen, seinen Triumph über den hochnasigen Herrn Adeligen zu feiern: ein verlumpter Schlachtschitz, der sich in dem neuen, bürgerlichen Polen nicht zurechtfinden kann und bei jedem Schritt Lächerlichkeiten begeht, wurde zur ständigen Figur und zum Hauptgewürz der Witzblätter der siebziger und achtziger Jahre, er wurde zuletzt von einem polnischen Offenbach in der Operette „Reise durch Warschau“ unter dem Freudengewieher des Städters verhöhnt und bespien.

Es bedurfte nur weniger Jahre, damit das Programm der „organischen Arbeit“ zum Evangelium’ des ganzen besitzenden Polens wurde. Aber auch nur anderthalb Jahrzehnte genügten, damit es in die Rumpelkammer wanderte. Kaum wurde nämlich unter der Form dieser Konzession an den Nationalismus die kapitalistische Entwicklung inauguriert, als schon ihr Schmelztiegel das Wesen aller Klassen gründlich veränderte und die Konzession selbst ganz überflüssig machte. Die adelige Gesellschaft stand bald mit beiden Füßen auf dem Boden der bürgerlichen Verhältnisse, und die Brücke, die sie mit der Vergangenheit verband, durfte in Stücke gehen. Das ehemalige Hauptkorps der nationalen Armee, der Adel, wurde zum grundbesitzenden Bourgeois. „Seine Ansichten“, kann man jetzt in den polnischen Zeitungen lesen, „haben eine ungeheure Entwicklung durchgemacht ... Es ist eine auf der Hand liegende Wahrheit geworden, daß der mächtigste, segensreichste Protektor der polnischen Landwirtschaft niemand anderer ist als die noch vor einem halben Jahrhundert verachtete und als etwas Fremdes und Unheilvolles gehaßte Industrie.“[1] Er baut seine Hoffnungen auf eine „landwirtschaftliche Industrie“, und ist diese einmal erstarkt, „dann wird man“ – hier verrät er seine Kriegspläne gegen Rußland – „an die Eroberung ... auswärtiger Absatzmärkte, an den Samen- und Viehbandel mit entlegenen Distrikten des Reiches denken können“[2].

Das Kleinbürgertum, welches einst den Schwanz der nationalen Armee gebildet, wurde in seinen lebensfähigeren Elementen von der Bourgeoisie aufgesogen und wird es immer mehr. Sein untergehender Teil ist dem

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[1] Wochenrundschau, Nr. 50, Warschau 1894. [Fußnote im Original]

[2] Zum Beispiel siehe die Serie der kleinbürgerlich-nationalen Broschüren „Vom heutigen Tage“, Nr. VII. [Fußnote im Original]