Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 88

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Was aber am meisten das polnische Proletariat aufgerüttelt, das war die Maifeier. Zum ersten Mal wurde für die Massen ein Mittel gefunden, sich auch unter dem absoluten Regime, und zwar in friedlicher Weise, politisch zu betätigen. Der sozialdemokratische Bund wußte dies vortrefflich auszunutzen. 1890 feierten durch Arbeitsniederlegung ca. 10 000 Arbeiter, 1891 25 000-30 000, 1892 in Łódź allein 80 000. (Die Maifeier war das Signal zum allgemeinen Streik.) Jedesmal war neben dem Achtstundentag die Abschaffung des absoluten Regimes, die politische Freiheit die Losung der Maiflugblätter.

So hat der Bund zum ersten Mal die Arbeiterklasse in den Kampf hineingezogen, ihr ein unmittelbares politisches Programm gegeben, die gewerkschaftliche Organisation geschaffen, eine politische Massenaktion durch die Maifeier hervorgerufen und so den Klassenkampf in Polen zur Wahrheit gemacht. Gründer des Bundes sind zwei schlichte Arbeiter, der Schlosser Jan Leder und der Setzer Wilkoszewski – beide bereits verstorben an der Proletarierkrankheit, mit der sie von der langen Einkerkerung bedacht wurden. Ende 1891 beginnt nämlich die unvermeidliche Hetzjagd der Zarenregierung auf den Bund und dauert das ganze Jahr 1892 hindurch. Die Bewegung wird dadurch zeitweilig gelähmt, um aber nur nach einer kurzen Rast wieder auf dem Kampfplatz zu erscheinen. 1893 vereinigte sich der Bund mit den Resten des „Proletariat“, welches seit 1890 selbständig eine sozialdemokratische Tätigkeit entwickelte, eine eigene Streikkasse gründete und sich tatkräftig an der Maidemonstration beteiligte, zu einer Partei.[1]* Dieselbe nahm nach einer kurzen Periode innerer Reibungen, die durch nationalistische Elemente hervorgerufen waren, welche es aus der Partei zu entfernen galt, im Juli 1893 den Namen Sozialdemokratie Russisch-Polens an. Die Bewegung machte wieder einen Schritt vorwärts.

Der Bund Polnischer Arbeiter hatte in vier Jahren die Praxis des sozialdemokratischen Kampfes geschaffen, der Sozialdemokratie Russisch-Polens stand es bevor, die prinzipielle und theoretische Seite auszubilden. Dazu diente ihr die Parteiliteratur und der am 10. und 11. März 1894 zum ersten Mal in Warschau abgehaltene geheime Parteitag, auf dem eine gründliche Diskussion über die Programmfragen vorgenommen wurde.

Das politische Programm und die nationale Frage, das sind die Hauptpunkte, um die es sich für die beiden Richtungen handelte. Beide verhalten

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[1] L. Winiarski (in der „Neuen Zeit“, Jg. X., Bd. I.: Der Sozialismus in Russisch-Polen) scheint bei seiner Charakteristik des „Proletariat“ nur diese letzte Periode der Tätigkeit desselben im Auge gehabt und von diesem Standpunkt das Ganze beurteilt zu haben. Dies ist aber insofern unzutreffend, als das „Proletariat“ der 90er Jahre seinem ehemaligen Programm bereits gänzlich entwachsen war. [Fußnote im Original]