Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 89

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sich zur nationalen Frage ablehnend, beide verwerfen die Wiederherstellung Polens als Programm für die Arbeiterklasse. Der Unterschied ist jedoch ein gewaltiger. Das „Proletariat“ betrachtete den nationalen Kampf einfach als überflüssig in Erwartung der allgemeinen Befreiung durch die „soziale Revolution“. Die polnischen Utopisten sagten wie der deutsche Utopist, der „wahre“ Karl Grün: „Eine menschliche Freiheit wird es geben, keine polnische mehr. Wozu auch die Beschränkung, wenn man die Fülle haben kann?“[1] Die Sozialdemokratie suchte die Lösung der polnischen Frage nicht in ihren eigenen Begriffen von dem kommenden tausendjährigen Reich, nicht in ihrem Kopfe, sondern in den sozialen Verhältnissen Polens selbst. Sie entdeckte, daß die polnische Frage von der kapitalistischen Entwicklung Polens bereits gelöst, und zwar in negativem Sinne gelöst wurde, indem Polen durch die kapitalistischen Produktions- und Austauschverhältnisse an Rußland festgebunden und seine herrschenden Klassen, für die die Zugehörigkeit zu Rußland eine Lebensbedingung darstellt, zu festen Stützen der Fremdherrschaft in Polen geworden sind. Das Bestreben, Polen durch die Kräfte des Proletariats als einen Klassenstaat wiederherzustellen, erweist sich daher nicht als überflüssig, sondern als undurchführbar, als utopisch.

Aus dem nämlichen Prozeß leitete die Sozialdemokratie auch das positive politische Programm der polnischen Arbeiterklasse ab. Dieselbe kapitalistische Entwicklung, welche die ökonomische Verschmelzung Polens mit Rußland erzeugt, hat auf der anderen Seite die stufenweise Untergrabung des absoluten russischen Regimes zur Folge. Und ebenso, wie es für die Arbeiterklasse unmöglich ist, die nationale Befreiung Polens gegen den Strom der kapitalistischen Entwicklung zu bewirken, ebenso ist es ihre direkte Klassenaufgabe, sich mit der russischen Arbeiterschaft zu vereinigen, um vor allem die konstitutionelle Freiheit im russischen Reiche mit autonomen Freiheiten für Polen zu erkämpfen.

Der Bund Polnischer Arbeiter hatte von Anfang an die politische Freiheit als Programmforderung aufgestellt und dadurch den Nationalismus einfach verworfen; die Sozialdemokratie Russisch-Polens gab nun die wissenschaftliche Begründung dieses Programms ebenso wie die Verwerfung des nationalistischen, und zwar auf Grund einer und derselben Analyse der sozialen Entwicklung Polens. Was daneben die Sozialdemokratie Russisch-Polens vor dem Bund auszeichnet, ist auch die scharfe Betonung des politischen Kampfes, während der Bund, zum ersten Mal an eine ganz unvorbereitete Masse herantretend, notgedrungen hauptsächlich die ökonomisch

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[1] Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien, 1845, S. 72. [Fußnote im Original]