Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 815

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schen Volkes sein Gebet in der Muttersprache verrichten kann, wo sie dieses polnische Volk in einem solchen Elend halten, daß es für seine Kinder kein Stück Brot und keine Kleidung hat!

Die Hoffnungen der Polen auf die Hilfe der Zentrumspartei stammen aus früheren Zeiten, als Bismarck den Katholizismus im Deutschen Reich in brutalster Weise verfolgte und damit die Katholiken zwang, sich für die Verteidigung ihres Glaubens zusammenzuschließen. Zu jener Zeit des sogenannten Kulturkampfes[1], vor 10-15 Jahren, war die Zentrumspartei nicht so stark wie heute und konnte angesichts der Übermacht der Nationalliberalen, d. h. der protestantischen Kapitalisten, im Parlament keinen großen Einfluß ausüben. Die Bismarcksche Verfolgung vereinigte unter dem Zentrumsbanner Katholiken der verschiedensten Stände: schlesische und oberschlesische Magnaten, rheinische Handwerker, bayerische Bauern und sogar einen Teil der Arbeiterklasse. Infolgedessen wurde die katholische Partei gewissermaßen zu einer Vertreterin der arbeitenden Volksschichten und nahm unter deren Druck eine demokratische, fortschrittliche Gestalt an.

Damals trat auch die katholische Partei gegen die Regierung auf, gegen die Bedrückung des Volkes durch hohe Steuern, Zölle und die Einziehung zum Militär; auch gegen alle Angriffe auf die Gewissensfreiheit, die Sprache und die Nationalität. Damals wurde auch die polnische Frage vom Zentrum eifriger verteidigt, da, wie man sagt, der Hungrige den Hungrigen und der Geschlagene den Geschlagenen am besten versteht. Als die deutschen Katholiken am eigenen Leibe zu fühlen bekamen, was Verfolgung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit seitens der Regierung bedeuten, hatten sie auch für die Bedrückung der Polen ein empfindsames Herz.

Doch die Zeiten haben sich geändert, den „Kulturkampf“ mitsamt seinem Schöpfer, Bismarck, holte der Teufel. Die Regierung begriff, daß sie durch die Verfolgung der Katholiken diese nur vereinte, stärkte und zu ihren Feinden machte. Heute ist die katholische Partei, wie wir schon sagten, die stärkste im deutschen Parlament, die Regierung muß nach ihrer Pfeife tanzen, die Verfolgungen des Katholizismus haben aufgehört, und die Zeitungen munkeln sogar, daß es den Jesuitenpatern bald gestattet werden wird, nach Deutschland zurückzukehren. Aber wie hat sich durch

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[1] Im Jahre 1872 hatte Otto Fürst von Bismarck den Kampf gegen die antipreußischen Bestrebungen der katholischen Kirche begonnen, die mit den Maigesetzen von 1873 ihren Höhepunkt erreichten. Bismarck mußte seit 1878 einen Ausgleich mit dem Klerus suchen, nachdem seine Maßnahmen ihren Zweck nicht erfüllt, sondern die katholische Kirche noch gestückt hatten. Papst Leo XIII. beendete am 23. Mai 1887 offiziell den Kulturkampf.