Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 805

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Eins hat mich bei den Ausführungen Vollmars überrascht: Vollmar, der gegen die Verstaatlichung spricht! Sieht so die „praktische Politik“ aus? Halten es die praktischen Politiker auch mit ihren eigenen Dogmen so? Nun, dann sind sie nicht gefährlich. Calwer gegenüber fasse ich dahin zusammen, daß wir sein Referat als seine Privatmeinung betrachten müssen, dagegen die Resolution, die auf dem richtigen Standpunkt der Partei steht, ruhig annehmen können. Unser Standpunkt betr. die Handelsbeziehungen ist auf dem Stuttgarter Parteitag festgestellt, er hat sich nicht geändert, kann und wird sich hoffentlich nicht ändern.

Man führt gegen eine Festlegung zugunsten des freien Handelsverkehrs gewöhnlich an die internationale Rücksicht auf die Arbeiterklasse zurückgebliebener Industrieländer und die Rücksicht auf die Arbeitsverhältnisse noch schutzbedürftiger Industriezweige in Deutschland selbst. Das erste Argument beruht auf Unkenntnis der Verhältnisse. Man nennt dabei besonders Rußland als ein Land, dessen Industrie ohne Schutzzölle sofort zugrunde gehen würde. Jeder Kenner russischer Verhältnisse wird Ihnen sagen, daß die russische Industrie gegenwärtig gerade von dem geltenden Schutzzollsystem Schaden trägt. Die hohen Zölle schaffen den russischen Unternehmern allerdings wahnsinnige Profite, machen sie aber apathisch, initiativlos und völlig konkurrenzunfähig auf dem Weltmarkt. Am meisten leidet darunter wieder der Arbeiter, denn mit der Schutzzöllnerei besteht in Rußland primitive Arbeitsweise und Rückständigkeit im Arbeiterschutz, so daß die russischen Sozialdemokraten für Aufhebung der Schutzzölle eintreten. Sollen wir aber auf die industrielosen Balkanstaaten Rücksicht nehmen? Ebenso hinfällig ist der Hinweis darauf, daß in Deutschland einzelne Industriezweige des Schutzzolls noch nicht entraten können. Keine Reform hat alle einschlägigen sozialen Verhältnisse berücksichtigen können; auch bei Einführung der Gewerbefreiheit, bei jedem technischen Fortschritt werden eine Reihe Unternehmer ruiniert; trotzdem sind wir für die Gewerbefreiheit und technischen Fortschritt eingetreten, wenn auch eine Anzahl Existenzen dabei zugrunde gegangen sind. Man hat z. B. neulich in der Presse hervorgehoben, die Fabrikation von Spazierstöcken könne nicht die rauhe Luft der freien Konkurrenz ertragen. Nun, ich glaube, wenn die wichtigsten Industriezweige soweit sind, dann werden wir, wenn auch mit großem Seelenschmerz, über die Spazierstöcke hinwegschreiten.

Aber überhaupt ist es eine Übertreibung, wenn man behauptet, wir wollten erklären: Vom nächsten ersten April an sind sämtliche Schutzzölle aufgehoben. Wir sind überhaupt keine Draufgänger, sondern vernünftige Leute (Heiterkeit.), die, wenn sie erst die Macht haben, wohl verstehen

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