Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 780

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Rücksichten, nämlich der Wunsch, Arbeiter, die verschiedenen politischen Parteien angehören, zum einheitlichen wirtschaftlichen Kampfe zu sammeln. Diese gewerkschaftliche „Sammlungspolitik“ ist ein ganz analoger Gedanke zu der gleichfalls in den letzten Jahren der Sozialdemokratie von verschiedenen Seiten empfohlenen Politik der Sammlung. Wie hier durch Verschleierung der Endziele die Werbekraft der Sozialdemokratie und damit ihre unmittelbaren politischen Erfolge vergrößert werden sollten, so sollen dort durch Abstreifung des sozialistischen Charakters die Werbekraft und die ökonomische Macht der Gewerkschaft potenziert werden.

Freilich formulieren die deutschen Gewerkschaften auch jetzt ihren sozialistischen Charakter nicht offiziell und machen ihn den Mitgliedern nicht zur Pflicht, aber ihre ganze Gegenwartsarbeit bewegt sich in sozialistischer Richtung.

Die Sozialdemokratie vertritt aber auch gegenüber einzelnen Gruppen des kämpfenden Proletariats die Interessen der gesamten Klasse und gegenüber einzelnen Augenblicksinteressen die Interessen der ganzen Bewegung. Ersteres äußert sich sowohl in dem politischen Kampfe der Sozialdemokratie um gesetzliche, d. h. das ganze Proletariat in jedem Lande umfassende Maßnahmen zur Hebung seiner Lage, wie in dem internationalen Charakter ihrer Politik, letzteres in der Übereinstimmung der Bestrebungen der Sozialdemokratie mit dem Gange der gesellschaftlichen Entwicklung, das sozialistische Endziel als Richtschnur nehmend.

Die Gewerkschaften vertreten von vornherein – dies der Unterschied von der politischen Partei des Proletariats – nur unmittelbare Gegenwartsinteressen der Arbeiter. Aber in ihrer Entwicklung werden sie durch diese selben Interessen dahin gedrängt, erstens ihren Errungenschaften in jedem Lande durch gesetzliche Normen immer mehr eine allgemeine Gültigkeit zu geben und zugleich eine internationale Zusammenfassung ihrer Kräfte herbeizuführen, zweitens in ihrer gesamten Politik, wie der Stellung zu den Streiks, zur Frage des Minimallohns, der gleitenden Listen[1] und der Tarifgemeinschaften, des Maximalarbeitstags, der Arbeitslosenunterstützung, der Frauenarbeit, der Ungelernten, der ausländischen Einwanderung, der Einmischung in die Technik der Produktion, des Rechtes auf angemessene Arbeit, der Zoll- und Steuerpolitik usw., sich immer mehr auf die allgemeinen sozialen Zusammenhänge zu stützen und mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu rechnen.

Sie werden somit durch eigene Interessen mit elementarer Kraft in dieselbe Bahn gedrängt, in der die Sozialdemokratie bewußt voranschreitet.

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[1] Grundlage dieses Systems war die zwischen Unternehmern und Arbeitern getroffene Vereinbarung, daß die Höhe des Lohnes von einem bestimmten Verhältnis zu den Veränderungen des Marktpreises der Produkte abhängig ist. Es ließ die Möglichkeiten für Manipulationen gegen die Arbeiter offen und wurde deshalb von diesen abgelehnt.