Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 76

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Reichstage vertreten wird, 4. Man kann sich nach dem Obigen vorstellen, wie groß die Verbreitung des Blattes unter der Bergarbeiterbevölkerung Oberschlesiens ist. In den polnischen Provinzen, auf welche es eben ankommt, werden also wahrscheinlich nicht einmal zweihundert Exemplare von dem einzigen polnischen sozialistischen Organ abonniert.

Von einer gewerkschaftlichen Bewegung unter den polnischen Arbeitern kann kaum die Rede sein, indessen gehören viele Bergarbeiter Oberschlesiens pfäffischen „christlichen“ Vereinen an. Die Maifeier wird von den polnischen Arbeitern wiederum nur in den wenig zahlreichen Abendversammlungen in einigen deutschen Städten gefeiert. Von der Maifeier in Oberschlesien liegt leider in diesem Jahre als einzige Nachricht vor, daß in einer Ortschaft ein Pfarrer am Morgen vor seinem Hause eine rote Fahne auf dem Baume gefunden hat. Das Fazit der Bewegung in den polnischen Provinzen ist also äußerst traurig: keine Gewerkschaften, keine Versammlungen, keine Maifeier, keine Agitationsliteratur. Wir fürchten, in letzter Linie nicht nur keinen Fortschritt seit 1893 konstatieren zu können, sondern vielmehr eines gewissen Rückgangs polnischer sozialdemokratischer Stimmen bei den nächsten Wahlen gewärtig sein zu müssen.

Dies die Situation. Die Frage drängt sich von selbst auf: Wo liegen denn die Ursachen dieser Erscheinung? Auf die eigenartigen sozialen und politischen Verhältnisse – auf die ökonomische Übermacht des Junkertums, die geistige Herrschaft des Pfaffentums, die bekannte Praxis der Polizei – wollen wir hier nicht eingehen. Diese Verhältnisse können wir vorderhand nicht abändern, und es handelt sich nur darum, ob – alle erwähnten Schwierigkeiten vorausgesetzt – die Agitation unter der polnischen Arbeiterschaft dasjenige Maximum geleistet hat, welches in dem gegebenen Milieu möglich war, eventuell warum sie dies nicht getan.

Wir stehen nicht an zu antworten: vor allem, weil die schriftliche und mündliche Agitation nicht auf der Höhe ihrer Aufgabe steht. Die Art und Weise, wie das einzige Parteiblatt, die „Gazeta Robotnicza“, redigiert wird, entspricht unzweifelhaft nicht den Anforderungen, die man an ein sozialdemokratisches Organ unter den gegebenen Verhältnissen stellen müßte. In der gegenwärtigen Lage hat ein polnisches sozialdemokratisches Organ allerdings eine schwierige Aufgabe vor sich. Es muß in gewissem Sinne alles bieten: prinzipielle Aufklärung über die Hauptfragen des Sozialismus, politische Aufklärung über die laufenden Fragen des öffentlichen Lebens, eine eingehende Kritik der sozialen Verhältnisse, speziell in den polnischen Provinzen, eine Waffe im Kampfe mit der polnischen bürgerlichen Presse, es muß endlich zugleich in einem gewissen Maße Fachorgan, wenigstens

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