Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 77

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für die oberschlesischen Berg- und Hüttenarbeiter, sein. Die „Gazeta Robotnicza“, wie sie vorliegt, wird leider keiner von diesen wichtigen Aufgaben gerecht. Prinzipielle Artikel über den Sozialismus werden fast gar keine gebracht. Der polnische Arbeiter, welcher keinen Versammlungen beiwohnt und selten eine Broschüre zur Hand bekommt, wird auch aus der „Gazeta Robotnicza“ nicht klug, was man eigentlich von ihm will und was der Sozialismus bedeutet. Der sozialistische Charakter des Blattes äußert sich nur in nichtssagenden Schlagworten, mit denen die Artikel und Notizen versehen werden, die jedoch viel mehr eine Art weinerlichen Gefühlssozialismus als eine moderne, klare und positive sozialdemokratische Auffassung darstellen. Der polnischen Fraktion im Reichstage und preußischen Landtage und ihrer Tätigkeit resp. Untätigkeit wird monatelang keine Erwähnung getan. Die Polemik mit der bürgerlichen Presse wird meistens in einer Weise geführt, die zum Ansehen der Partei kaum beitragen kann. Endlich hat das Blatt – und das ist das Fatalste – sehr wenig Fühlung mit der Arbeiterschaft Preußisch-Polens. Die Korrespondenzen aus den polnischen Städten bestehen meistens in weitschweifigen Erzählungen über allerlei Einzelfälle der Ausbeutung und Unterdrückung. Für die örtliche Bevölkerung aber bedeutendere Fälle, wie z. B. die jüngsten kleinen Streiks in Oberschlesien[1], werden nur mit ein paar kurzen Notizen abgetan. Ähnlich der schriftlichen ist auch die mündliche Agitation sehr dürftig. Agitatorische Kräfte gibt es äußerst wenig, und es werden keine neuen herangebildet. In Berlin, wo wenigstens künftige Agitatoren für die Provinz geschult werden sollten, wird die Propaganda sehr chaotisch geführt. In den Parteiversammlungen wird bald über politische und soziale Themata, bald aber auch über den alten Lelewel, über Psychologie und Spiritismus und alles mögliche referiert; neulich ist man gar auf die Idee gekommen, eine Parteiversammlung einzuberufen, um eine medizinische Broschüre über den Weichselzopf[2] und seine Behandlung vorzulesen! Man kann sich denken, daß ein Agitator, der mit dieser weichselzöpfigen Vorbereitung nach Posen oder Oberschlesien kommt, keine besonderen Dienste leisten wird.

Ein Moment, welches die sozialdemokratische Aufklärung verwirrt und stört, sind auch die nationalistischen Tendenzen. Darüber sowie über unsere nächsten Aufgaben auf dem Gebiete einer rationellen sozialdemokratischen Agitation unter der polnischen Bevölkerung im folgenden Artikel.

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[1] Im Frühjahr 1897 fanden in Oberschlesien eine Reihe kurzfristiger Streiks statt, die organisatorisch nicht vorbereitet worden waren. Sporadisch hatten die Streikenden selbst versucht, den Kampf während der Streiks zu organisieren.

[2] Als Weichselzopf wurde eine durch Unreinlichkeit, meist in Verbindung mit Ungeziefer hervorgerufene Verfilzung der Haare bezeichnet.