Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 757

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darf nie lediglich nach dem materiellen Erfolg, sondern vor allem nach ihrer inneren Berechtigung eingeschätzt werden. Sie muß, auch wenn sie in bezug auf das unmittelbar angestrebte Ziel erfolglos bleibt, wie es meistenteils in den Parlamenten der Fall ist, in der agitatorischen Wirkung ihre Rechnung finden. In dem behandelten Falle erscheint dieser Gesichtspunkt doppelt angebracht, weil bis zur letzten Stunde, namentlich bis zu der unerwarteten Schwenkung der Nationalliberalen, die Obstruktion als fast aussichtslos betrachtet werden mußte.

Die politische Situation inner- und außerhalb des Reichstags bot, wie wir gesehen haben, Gründe genug, um zu den äußersten Mitteln zu greifen, ob der Erfolg vorauszusehen war oder nicht. Allein es muß gesagt werden, daß im Kampfe selbst unsererseits diese Gründe nicht zum Ausdruck gekommen sind. Die Obstruktion trug die ganze Zeit lediglich den Charakter der Abwehr gegen die Lex Heinze und nicht der Abwehr gegen die nach der Herrschaft strebende Gesamtpolitik des Zentrums, die in der Lex Heinze zutage trat; betont wurden lediglich die bedrohten Interessen der Kunst und nicht die bedrohten Interessen des politischen und materiellen Volkswohlstandes. Es kommen hier selbstverständlich nicht die eigentlichen Obstruktionsreden, die bloß als technisches Kampfmittel dienten, sondern die große Debatte, die den Kampf noch vor den Osterferien eröffnet hat, sowohl wie die großen agitatorischen Reden in den Volksversammlungen und die Presse in Betracht. Hier wie dort war die aus der Geschichte und dem Wesen der Kunst hergeleitete Notwendigkeit der freien Darstellung des Nackten, also die unmittelbare Frage der Lex Heinze, und nicht die ganze politische Situation zum Hintergrund des Kampfes gemacht.

Freilich würde die Beleuchtung des Zusammenstoßes mit dem Zentrum vom Standpunkt seiner allgemeinen Politik – die Hineinziehung des Flottenumfalls, des Brotwuchers des Zentrums als der hinter der Lex Heinze lauernden Gefahren in die Debatten – die Begeisterung und den Beifall der bürgerlichen Intelligenz und der Künstler ganz bedeutend herabgedämpft haben. Dafür wäre aber der politische Charakter, die agitatorische Wirkung der hartnäckigen Kampagne auf die Volksmasse viel schärfer und klarer gewesen.

Auch hier besteht eine Analogie zwischen unserer Obstruktion und der Dreyfus-Kampagne in Frankreich. Wie hier die Sozialisten in vollkommen gerechtfertigter Weise einen Einzelfall als die Erscheinungsform großer sozialer Gegensätze erkannten, im Kampfe selbst aber sich durch ungenügende Hervorhebung des allgemeinen politischen Hintergrundes und zu

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