Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 746

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Das Einkommen der Arbeiterklasse hat sich seit 50 Jahren nach Giffen um 160 Prozent vermehrt (vorher hieß es bei demselben Giffen um 100 Prozent und noch einige Zeilen höher 50 bis 100 Prozent im Durchschnitt!). Anders steht es um das Einkommen der Kapitalistenklasse. Die Kapitalsmasse hat sich freilich „ungeheuer“, nämlich um mehr als 150 Prozent vermehrt, aber erstens ist das Kapitaleinkommen nach Giffen im ganzen nur um ca. 100 Prozent, zweitens die Zahl der Kapitalisten stärker als um 100 Prozent gewachsen. Auf diese Weise entfällt auf den Durchschnittskapitalisten nur ein Wachstum von ca. 15 Prozent Kapital und fast gar kein Wachstum des Kapitaleinkommens!

Die erste Schlußfolgerung, die durch ihre wunderbare Übereinstimmung mit den allbekannten und handgreiflichen Tatsachen des sozialen Lebens in England ein richtiges Licht auf den Wert der Giffenschen Berechnung wirft, ist, daß in England seit 50 Jahren so gut wie gar keine Konzentration des Kapitals stattgefunden haben soll!

Aber noch merkwürdiger ist der Schluß, den Giffen selbst aus seiner Berechnung folgert: Da nämlich das Einkommen des Einzelkapitalisten nach ihm fast gar nicht gewachsen, der Lohn des Durchschnittsarbeiters aber (gleichfalls nach ihm) sich verdoppelt hat, so folgt daraus – daß der ganze Reichtum dem Arbeiter zugute gekommen ist!

Das hier angewandte „statistische“ Mittel ist so plump, daß es ohne weiteres in die Augen springt. Giffen ermittelt die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums durch Vergleichung des Wachstums des Einkommens eines Einzelkapitalisten mit dem Wachstum des Arbeitslohnes. Das Einkommen des Einzelkapitalisten ist aber eine rein mathematische Größe, die ebenso von der Masse des Kapitaleinkommens wie von der Zahl der Kapitalisten abhängt. Nachdem Giffen erst die Kapitalisten wie die Kaninchen sich hat vermehren lassen, wird die Quote des Einzelkapitalisten an Einkommen natürlich als sehr gering gewachsen erscheinen.

Allein, Giffen sieht von der Kleinigkeit ab, daß die Zahl der Kapitalisten und die Quote eines jeden für die Arbeiterklasse in diesem Fall ganz gleichgültig ist. Es ist die Summe des Kapitaleinkommens, wie sie sich auch verteilen mag, die das arbeitslose Einkommen der Kapitalistenklasse darstellt. Ferner kommt nicht bloß das Kapitaleinkommen, sondern auch die Kapitalsmasse in Betracht, und zwar auch als solche, ohne Rücksicht auf ihre Verteilung. Ob nämlich die Arbeiter mit einem bestimmten Quantum ihnen abgepreßter unbezahlter Arbeit nur wenige Kapitalkönige oder eine ganze Horde von kleinen Kapitalisten bereichert haben, bleibt für die Verteilung des Reichtums unter Klassen der Gesellschaft völlig belanglos.

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