Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 72

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Erfahrung mit der Unabhängigkeit Bulgariens, Rumäniens, Serbiens, also erst in den 80er Jahren, die politische Lehre ziehen können, daß ihr die stufenweise Zerbröckelung der Türkei schädlich ist, dagegen die Integrität derselben bei der gegebenen inneren Zerrüttung bis zu gewisser Zeit große Dienste leisten kann. Die Lage der Dinge in der orientalischen Frage hat also sowohl in materieller wie infolgedessen in politischer Beziehung seit dem Krimkrieg eine Verschiebung um volle 180 Grad erlitten und eine direkt entgegengesetzte Stelle zu derjenigen von dazumal eingenommen. Da sich aber so die Dinge aus der Zeit des Krimkrieges zu ihrer eigenen Antithese entwickelt haben, mußten notwendig die Ideen aus jener Zeit in Gegensatz zu den heutigen Dingen und zugleich zu ihren eigenen ehemaligen Ausgangspunkten geraten.

Die ganze ehemalige orientalische Politik der Sozialisten war auf Rußland abgezielt. Rußland strebte weiland den Zerfall der Türkei an, die Sozialisten wahrten daher ihre Integrität. Heute will umgekehrt Rußland einstweilen die Integrität der Türkei wahren. Da sich aber der „Vorwärts“ in die alte Politik verbeißt und bei jeder Regung auf der Balkanhalbinsel für die Integrität der Türkei Alarm schlägt, so verfällt er in die folgende originelle Lage:

Erstens erscheint die Frontänderung Rußlands vom Standpunkte der sozialistischen Politik von 1855 ganz unerklärlich, daher glaubt sie der „Vorwärts“ für „falsche Vorspiegelung“ ansehen zu müssen, und da ihm die alten russischen Intrigen im Kopfe sind, macht er beharrlich immer wieder das alte russische Diplomatenspiel in allen ihm heute direkt widersprechenden Ereignissen ausfindig.

Zweitens ist ihm die ganze wirkliche Entwicklung in der Türkei, welche zu Aufständen und zur Auflösung führt, nichts als eine unliebsame, störende Tatsache, daher wird sie einfach geleugnet. Die Metzeleien werden als eine Lüge, die Aufständischen als ein nichtswürdiges Volk und der Aufstand als ein Theaterstück erklärt.

Mit einem Wort: Aus lauter Feindschaft gegen Rußland ist der „Vorwärts“ in die gleiche Stellung mit der russischen Diplomatie geraten; indem er die eingebildeten Pläne Rußlands zu durchkreuzen sucht, wird er zum unbewußten Befürworter seiner wirklichen Pläne, und da die wirklichen Ereignisse seine Einbildungen stören, so erklärt er einfach die Wirklichkeit für Einbildung.

Es mag sein, daß vom Standpunkte dieser Politik, d. h. vom Standpunkte des Krimkrieges, meine Auffassung der Orientfrage russenfreundlich erscheinen kann. Daß aber die Orientpolitik des Genossen Liebknecht

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