abzuleiten, kurz – nicht die Geschichte der Türkei aus dem russischen Rubel, sondern umgekehrt den russischen Rubel aus der Geschichte der Türkei zu erklären, und nicht die Ereignisse in unsere verknöcherten Losungen einzuzwängen, sondern umgekehrt unsere Losungen den lebendigen Ereignissen anzupassen. Von diesem Standpunkt ausgehend, mußte man zu dem Schluß gelangen, daß der Zerfall der Türkei nur eine naturnotwendige Konsequenz ihrer inneren ökonomischen Zersetzung ist, die ihrerseits von der Geldwirtschaft und dem modernisierten Staatsapparat herbeigeführt wurde, daß uns ferner dieser Prozeß, den wir nicht aufhalten können, sehr nützlich ist, da er uns in der von ihren christlichen Beschützern befreiten Türkei wie in den von türkischem Druck befreiten Balkanstaaten eine starke Waffe gegen die russischen Gelüste im Orient bereitet. – Es mag wohl sein, daß meine Artikel – wie Genosse Liebknecht meint – kein Licht auf diese Fragen geworfen haben, das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist nur, daß der „Vorwärts“ jedenfalls in dieser Richtung nur ein langes Sündenregister aufzuweisen hat. Die ganze Schwäche seiner Haltung scheint uns nämlich in dem zu liegen, worin der Genosse Liebknecht ihre stärkste Seite erblickt: Er hat die orientalische Frage – im Gegensatz zu uns – aus eigener Anschauung (worunter er den Umgang mit Karl Marx und die Schule des genialen Urquhart[1] in London versteht), und zwar zur Zeit des Krimkrieges studiert. Seit dem Krimkriege sind aber volle vierzig Jahre verflossen, und manches hat sich seitdem im Himmel und auf Erden verändert. Rußland ist seitdem aus einem naturalwirtschaftlichen zu einem kapitalistischen Land und aus einem politischen Aschenbrödel zum Herrscher Europas geworden. Die Türkei ist seitdem zur Geldwirtschaft übergegangen. Seitdem waren der Krieg von 1877 und der Berliner Kongreß[2]. Seitdem sind Rumänien, Serbien und Bulgarien, Bosnien und Herzegowina von der Türkei abgefallen. Die eigentliche ökonomische Zersetzung der Türkei, welche zu der politischen Auflösung geführt hat, ist erst nach dem Krimkriege zur vollen Entfaltung gekommen. Anderseits hat auch die russische Diplomatie erst aus der
[1] David Urquhart, ein Turkophile, war in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts als britischer Diplomat in Konstantinopel tätig und hatte 1835 in einer Publikation geheimer russischer Staatsdokumente Pläne der zaristischen Politik, besonders zur Besetzung Konstantinopels, aufgedeckt.
[2] Der Berliner Kongreß, an dem alle europäischen Großmächte und die Türkei teilnahmen, wurde vom 13. Juni bis 13. Juli 1878 durchgeführt und beendete den russisch-türkischen Krieg 1877/78. Die Beschlüsse des Kongresses liefen auf eine partielle Aufteilung der Türkei hinaus. Rußland erhielt einige Gebiete in Asien zugesprochen; Österreich-Ungarn bekam das Recht, Bosnien und die Herzegowina zu besetzen. Außerdem entstanden aus ehemals türkisch unterjochten Gebieten einige formell unabhängige Balkanstaaten, über deren Gestaltung jedoch im wesentlichen machtpolitische Interessen der europäischen Großmächte entschieden.