Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 70

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auch von jedem Genossen in Deutschland hätte fertiggebracht werden können.

Was den Zusammenhang der politischen und nationalen Bewegungen mit wirtschaftlichen Ursachen betrifft, so wage ich keinen Augenblick zu zweifeln, daß es dem Genossen Liebknecht überhaupt klar ist, da ja nach Liebknecht „sogar (?!) die Raubkriege der rückständigsten afrikanischen Stämme auf ökonomische Ursachen zurückzuführen“ sind. Nur erscheint ihm offenbar der ökonomische Faktor „hinten in der Türkei“ in einer eigentümlichen orientalischen Gestalt, nämlich nicht als die innere wirtschaftliche Entwicklung der Türkei, sondern als der russische Rubel. Denn so lesen wir z. B. in einer Notiz des „Vorwärts“ vom 6. September d. J. wörtlich: „Die nationalen und religiösen Gegensätze, von denen früher nichts zu verspüren war, spitzen sich mehr und mehr zu, und die Griechen und Armenier, die im Laufe der Jahrhunderte in den Besitz fast allen Reichtums und fast aller Ämter gekommen waren, sind auf einmal ‚unterdrückt‘! ... Und das alles, seit die europäische Diplomatie sich in die türkischen Angelegenheiten eingemischt hat und in der Türkei ein Beuteobjekt und den Spielball politischer Intrigen erblickt.“ Oder in einer anderen Notiz, wo uns versichert wird, daß die Armenier samt und sonders ein lumpiges Volk sind, welches überall verhaßt ist, in einer dritten, daß die Greuel überhaupt nur auf dem Papier existieren, in einer vierten, daß Salisbury der einzige Mann wäre, im Orient Ruhe zu schaffen etc. etc. Der russische Rubel ist zweifellos an sich etwas rein „Ökonomisches“. Wenn ihn jedoch der „Vorwärts“ zum historischen Grundfaktor macht, so reduziert er die ganze moderne Geschichte des Orients auf eine einzige große Bestechung, auf ein diplomatisches Intrigenspiel, d. h. auf etwas, das nur in einem dichten Nebel, wo alle Katzen grau sind, für „ökonomische Verhältnisse“ angenommen werden kann.

Es kam aber überhaupt gar nicht darauf an, die wohlfeile Entdeckung zu machen, daß der armenischen Bewegung irgend etwas „Ökonomisches“ zugrunde liegt. Das wäre in der Tat nichts als eine „Schablone“. Es kam darauf an, aus den bekannten, aber gewöhnlich zerstreut und ohne Zusammenhang dargestellten Tatsachen des sozialen Lebens der Türkei ihre ökonomische Entwicklung zu rekonstruieren, die innere Triebfeder derselben und die Richtung aufzuzeichnen und daraus einerseits die politischen Folgen, anderseits die Interessen der Sozialdemokratie im Orient

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