Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 702

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Wir bitten die Herren Konservativen sehr um Verzeihung, aber dieser heldenhafte Entschluß hat uns lebhaft an ein Titelbild des „Simplicissimus“ erinnert, wo eine nicht mehr junge Dame – von denen, die von der Lex Heinze[1] ins Auge gefaßt sind – nach einer offenbar vergeblichen längeren Nachtwandlung in den Straßen erklärt: „Wenn das so weitergeht, werd´ ich anständig! Aber dann gleich eklig!“

Wir wollen damit übrigens gar nicht sagen, daß wir an dem Ernste der agrarischen Drohungen irgendwie zweifeln. Im Gegenteil, wir wissen zu gut, daß den staatserhaltenden Gruppen nichts so Ernst wie der liebe klingende Vorteil und nichts weniger Ernst ist, wie die „prinzipiellen“ Phrasen, womit sie jedesmal den Vorteil zu verschleiern und zu „begründen“ suchen. Extreme Freihändler, solange es die Taschen füllt, dann extreme Schutzzöllner, wenn Schutzzoll noch besser das Geschäft besorgt, dann wieder Freihändler, sobald die Schutzzöllnerei sich nicht rentiert und so fort mit Grazie. Das ist so ganz die echte Politik, Moral, Prinzip, Taktik oder wie man es nennen will, mit einem Wort, so ganz das Wesen der bürgerlichen Parteien, daß wir die ergötzlichen Drohungen der Agrarier in diesem Augenblick durchaus nicht bloß als eine Kriegslist, als einen Kniff betrachten.

Ebensowenig halten wir sie für unausführbar. Läßt doch mit Recht v. Lotz in seinen „Ideen der deutschen Handelspolitik“ den von ihm beschworenen Geist Friedrich Lists sagen: „Deutschland war freihändlerisch, solange die ostelbischen Agrarier freihändlerisch waren, Deutschland ist schutzzöllnerisch, seit die Agrarier schutzzöllnerisch sind.“ Und, fügen wir hinzu, Deutschland wird wieder freihändlerisch, sobald es den Agrariern in den Kram paßt.

Freilich, die feindlichen Brüder finden sich am Ende wahrscheinlich doch – bei der gemeinsamen Futterkrippe der kapitalistischen Profite. Der Fahnenerhebung der Großindustriellen gegen ihre Vormünder im Schutzzoll und in der Reaktion ist leider nach allen bisherigen Erfahrungen nicht allzu lange Dauer und allzu große Energie zu prophezeien.

Allein, die Klugheit gebietet der Sozialdemokratie angesichts der Haltung der Agrarier, die das Fleischschaugesetz zum Prüfstein ihrer zollpolitischen Taktik machen wollen, zu tun, was sie auf alle Fälle zu tun verpflichtet ist: eine möglichst rege Volksbewegung zur Bekämpfung des Fleischschaugesetzes in Fluß zu bringen.

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[1] Ein Prozeß gegen den Zuhälter Heinze von 1892 hatte im Jahre 1900 die Änderung und Ergänzung von Strafvorschriften des Strafgesetzbuches für Sittlichkeitsverbrecher zur Folge. Die wichtigsten Bestimmungen, die sogenannten Theater- und Kunstparagraphen, wurden von der Sozialdemokratie zu Fall gebracht, da sie eine freie Betätigung der Kunst, Literatur und Wissenschaft behindern sollten.