Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 694

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Hieben der von Marx entlehnten eisernen Waffen der russischen Sozialdemokraten immer mehr zerbröckeln, mochte die Schar seiner Getreuen ihn um eine Entgegnung der sozialdemokratischen Kritik anflehen, mochten die kecken Jünger der Marxschen Lehre in ihrer theoretischen Sicherheit ihn provozieren, reizen, kränken – der Alte blieb sich treu. „Ich kämpfe nicht mit Sozialisten“, hatte er zur Antwort.

Und er schwieg. Die prinzipielle Schlacht im sozialdemokratischen Lager ward inzwischen ausgefochten, die Reihen der „Narodnaja Wolja“ schmolzen zusehends zusammen, eine neue Partei gelangte seit den neunziger Jahren zur ungeteilten Herrschaft. Und der alte Lawrow saß in seinen zwei armseligen Stübchen in der Rue St-Jacques, arbeitete, vergraben in ganze Berge von Büchern, an einer Geschichte der Philosophie, die in dem Sozialismus ihre Krone finden sollte, und wartete. Jeder Nachricht aus Rußland, jedem neuen Flüchtling begegnete er mit stiller Hoffnung, daß die „Narodnaja Wolja“ wiedererstanden ist, daß sie sich wieder ermannt und zum Kampfe rüstet. Es erinnert etwas in diesem Warten des großen Idealisten an den anderen Großen, an Fourier. So mochte der alte Utopist tagtäglich mit seinem ins Papier gewickelten Laib Brot unter dem Arm in sein Stübchen wandern, in der Erwartung, dort harrt seiner bereits der ersehnte Millionär.

Der Millionär kam nicht. Die „Narodnaja Wolja“ war nicht mehr auferstanden, und Lawrow wurde immer fremder der neuen Generation.

Nicht nur prinzipiell und taktisch, auch geistig waren ihm die heutigen Sozialisten Rußlands fremd. Andere Zeiten – andere Sitten. Die heute notwendige Kleinarbeit, die zuweilen überwiegende Vorherrschaft der ökonomischen Seite des Kampfes, die in dem Fachverein oder dem kleinen Streik in einer Kleinstadt naturgemäß ein bedeutsames Ereignis erblicken läßt, konnte dem aufs große und ganze gehenden Geiste Lawrows nicht zusprechen. Gewöhnt an Heldengestalten, erschien ihm der durchschnittliche sozialdemokratische Agitator von heute etwas zwerghaft.

Und daher der schmerzlich-ängstliche Zug im Gesicht, mit dem er jedesmal zu einem neuen Besuch aus seinem Arbeitszimmer heraustrat, die hohe Patriarchengestalt mit dem langen weißen Bart und Kopfhaar immer noch aufrecht, die müden, überarbeiteten kurzsichtigen Augen fragend auf den Ankömmling richtend und mit einer Hand den alten abgenutzten Schlafrock zuknöpfend. Und dieser eine Blick genügte, um alles Kleinliche, Häßliche, Schmutzige, das sich in dem Parteikampf überall und noch mehr in dem tristen Flüchtlingsdasein bergehoch aufhäuft, von der Schwelle des großen Menschenfreundes und des reinen, edlen Menschen

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