Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 670

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Endlich am Mittwoch im preußischen Abgeordnetenhause wurde die Plänkelei von dem Direktor des Bundes, Hahn, und dem Nationalliberalen

v. Eynern fortgesetzt – letzterer versprach, die „wilde Agitation“ des Bundes der Landwirte gegen die Kanalvorlage[1] zu bekämpfen, ersterer versprach seinerseits, den „unsicheren Kantonisten“ unter den vom Bund gewählten Nationalliberalen das Handwerk zu legen.

Was in diesem ergötzlichen Bruderzwist der beiden bürgerlichen Parteien bemerkenswert ist, ist die verschiedene Haltung der Agrarier und der Nationalliberalen. Jene haben entschieden die größere Sicherheit im Vorgehen, Brutalität im Drohen, schließlich auch das formelle Recht auf ihrer Seite. Daß die Nationalliberalen, die sich durch den Bund der Landwirte während der Wahlen unterstützen lassen und ausdrücklich auf ihr „Programm“ schwören, später im Reichstag und Landtag aber gelegentlich die Heerfolge versagen, dadurch einen politischen Verrat begehen, unterliegt keinem Zweifel. Die skrupellose Energie, mit der die Bündler sie nun über die agrarische Klinge springen lassen und auf ihrem Schein bestehen, ist ebenso gewiß ihr gutes Recht, wie es der wichtigste Faktor der Macht der „kleinen, aber einflußreichen Gruppe“ ist. Klarheit in den reaktionären Zielen, Festigkeit im Wollen, Rücksichtslosigkeit in den Mitteln – das sind Eigenschaften, die den Agrariern jene Überlegenheit über die nationalliberalen Wadelstrümpfler sichern, die den Ganzen stets über die Halben eigen ist.

Die Bündler haben noch einen sehr wichtigen Vorzug: Sie nennen die Dinge beim richtigen Namen, sie sind offen und ehrlich Vertreter gewisser Ausbeutungsinteressen, während die Nationalliberalen noch die Bürde ihrer liberalen Vergangenheit in Gestalt von politischen Phrasen mit sich schleppen. Was ist heute eigentlich nationalliberal? Alles und nichts! Arbeiterfeinde Stummschen Geistes wie Möller und Sozialreformer wie Bassermann, reine Agrarier wie Oriola und reine Kapitalisten wie Büsing, konservative Sachsen und liberale Hannoveraner, Mucker und Freidenker, Bündler und Antibündler – alle bürgerlichen Interessen, alle Klassen und Schattierungen des Ausbeutertums vereinigen sich in dieser politischen Kapsel, der ihr eigener nationalliberaler Inhalt längst entschwunden ist.

Die Differenzierung und Scheidung nach einzig maßgebenden, heute einfachen Tascheninteressen im engsten und direktesten Sinne ist für die Nationalliberale Partei nur noch eine Zeitfrage. Vorläufig äußert sich dieser Prozeß in systematischer Inkonsequenz in der Haltung, in der Abstimmung der Partei, in ihrem planmäßigen Verrat an allen Programmen nach

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[1] Mitte März 1899 war im preußischen Landtag von der Regierung, unterstützt von den Liberalen sowie von Industrie- und Militärkreisen, eine Vorlage zum Bau eines Verbindungskanals zwischen Rhein, Ems, Weser und Elbe eingebracht, von ostelbischen Agrariern im August 1899 aber zu Fall gebracht worden, da sie ein Sinken der Getreidepreise infolge billiger Einfuhrmöglichkeiten und die Abwanderung der Landbevölkerung in die Industriezentren befürchteten und gleichzeitig auf die Zollpolitik Druck ausüben wollten.