Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 656

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über den Kopf wachsen und sich von dem Sozialismus und der Organisation abwenden. Daraus ergab sich eine naturgemäße instinktive Abneigung der alten Parteien gegen jede spontane politische Massenbewegung als den Feind, der die teuersten Errungenschaften: den Klassenstandpunkt, die Endziele und die Organisationen selbst, im Strudel der Tageskämpfe wegzuspülen droht.

Daher logischerweise auch die Abneigung der drei führenden Gruppen gegen die aktive Beteiligung an der Dreyfus-Kampagne. Ni l`un, ni l`autre (weder die einen noch die anderen), mit dieser Losung aus der Boulanger-Krise wollten die alten Parteien auch diesmal die politische Abstinenz des Proletariats proklamieren.

Aber der Zusammenbruch des Radikalismus hat der Arbeiterklasse nicht nur große Aufgaben, sondern auch nahreiche frische Kräfte überwiesen, die in der gegebenen Lage einzig geeignet waren, die Initiative der politischen Aktion des Proletariats zu ergreifen. Ausgestattet mit publizistischen, rednerischen, parlamentarischen Talenten, zugleich weder durch feste Lehrmeinungen noch durch Überlieferungen eigener Vergangenheit in der Bewegungsfreiheit gehemmt, waren die Unabhängigen Sozialisten von Hause aus zur Wahrnehmung der Aufgaben der Gegenwartspolitik befähigt. Freimütig eingreifend, stellten sie die praktische Losung: Gegen den Militarismus! auf und rissen die sozialistischen Massen mit. Auf diese Weise hat die Arbeiterklasse in der Dreyfus-Krise zum erstenmal eine selbständige aktive Rolle im politischen Tageskampfe gespielt.

Aber von einer in den gegebenen Verhältnissen entstandenen Massenbewegung waren ernste Gefahren unzertrennlich. Unter der Führung der Unabhängigen Sozialisten konnte der Klassencharakter der Bewegung nicht genügend gewahrt werden. Die klare Scheidelinie zwischen dem nationalistenfeindlichen Proletariat und dem revisionistischen Lager der Bourgeoisie, zwischen dem Kampf gegen den Militarismus und dem Kampf zur Rettung und Erhaltung des Militarismus verschwand hie und da unter den Wellen der Tagespolitik. Der Fall Millerand[1] verwischte endlich am stärksten die natürlichen Grenzen des Klassenkampfes.

Waren die alten Parteien ungeeignet, das sozialistische Endziel in die Scheidemünze praktischer Losungen der Gegenwartspolitik auszuwechseln, so vermochten die Unabhängigen der Gegenwartspolitik nicht genügend das Gepräge des sozialistischen Endziels zu wahren. Wenn aber die Fehler der Unabhängigen ein schlagender Beweis waren, daß die Massenbewegung des Proletariats die Leitung seitens einer organisierten und prinzipiell ge-

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[1] Alexandre-Etienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine sozialreformerische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erstmalige Eintritt eines Sozialisten in die Regierung eines bürgerlichen Staates führte in der II. Internationale zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und Reformisten.