Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 65

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Lebens gelangen können. Solange ein Land unter der türkischen Herrschaft bleibt, kann von einer modernen kapitalistischen Entwicklung darin keine Rede sein. Von der Türkei losgetrennt, bekommt es eine europäische Staatsform, bürgerliche Institutionen und wird allmählich in den allgemeinen Strom der kapitalistischen Entwicklung hineingezogen. So haben Griechenland, Rumänien einen auffallenden Fortschritt seit ihrer Ablösung von der Türkei durchgemacht. Es ist wahr, alle die neuentstehenden Staaten sind Kleinstaaten, trotzdem wäre es falsch, ihre Entstehung als einen politischen Zersplitterungsprozeß aufzufassen. Denn die Türkei ihrerseits ist kein Großstaat im modernen Sinne des Wortes. Mit der bürgerlichen Entwicklung wird aber in diesen Ländern allmählich der Boden auch für die moderne Arbeiterbewegung, für die Sozialdemokratie vorbereitet, wie das z. B. in Rumänien, zum Teil auch in Bulgarien bereits der Fall ist.[1] Damit wird unser oberstes internationales Interesse befriedigt, das Interesse nämlich, daß möglichst in allen Ländern die sozialistische Bewegung Platz greift.

Drittens endlich befindet sich der Auflösungsprozeß der Türkei in nächster Beziehung zu der Frage der russischen Herrschaft in Europa, und hier liegt der Kern der Sache. Wenn auch in unserer Presse stellenweise für die Türken Partei ergriffen wurde, so geschah dies offenbar nicht aus angeborener Grausamkeit oder spezieller Vorliebe für die Anhänger der Vielweiberei. Auf dem Grunde lag augenscheinlich ein wahrer Kern der Opposition gegen die Gelüste des russischen Absolutismus, der sich über den Leichnam der Türkei den Weg zur Weltherrschaft sucht und ihre christlichen Nationen als ein Werkzeug auf seinem Vormarsch auf Konstantinopel benutzen will. Nun war aber u. E. der gute Wille ganz verkehrt angebracht und die Mittel gegen Rußland in gerade entgegengesetzter Richtung gesucht, als wo sie liegen.

Schon die bisherige Praxis hat gezeigt, daß Rußland in seiner Politik auf der Balkanhalbinsel in der Regel zu ganz umgekehrten Resultaten gelangte, als es angestrebt. Die von der türkischen Herrschaft befreiten Völker haben regelmäßig die Wohltaten Rußlands mit „schnödem Undank“ vergolten, d. h. haben es rundweg abgeschlagen, das türkische Joch

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[1] Die armenischen Sozialisten sind daher unseres Erachtens auf dem Holzweg, wenn sie – wie in der „Neuen Zeit“, Nr. 42, Jg. XIV – ihre separatistischen Bestrebungen mit einer angeblichen kapitalistischen Entwicklung Armeniens begründen zu müssen glauben. Im Gegenteil, die Lostrennung von der Türkei ist hier erst die Vorbedingung des Aufkeimens des Kapitalismus. Freilich ist der Kapitalismus selbst eine Vorbedingung der sozialistischen Bewegung. Die armenischen Genossen müssen daher unseres Erachtens – um Lassalle zu paraphrasieren – einstweilen für eine Vorbedingung zur Vorbedingung zum Sozialismus sorgen – eine Art Vorbedingung in zweiter Potenz. [Fußnote im Original]