Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 66

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mit dem russischen zu vertauschen. Sosehr dies auch für die russischen Diplomaten unerwartet war, ist diese Haltung der Balkanstaaten nichts weniger als überraschend. Es besteht zwischen denselben und Rußland ein natürlicher Interessengegensatz, derselbe Gegensatz, der zwischen dem Lamm und dem Wolf, der Beute und dem Jäger besteht. Die Abhängigkeit von der Türkei ist diejenige Hülle, die diesen Interessengegensatz verdeckt, ja ihn äußerlich und zeitweilig sogar als eine Interessengemeinschaft erscheinen läßt. Die Massen lassen sich nicht in komplizierte und fernliegende Reflexionen ein. Da die nationalen Erhebungen in der Türkei eben Massenbewegungen sind, so akzeptieren sie das erste beste Mittel, das ihren Augenblicksinteressen entspricht, und sei dieses Mittel die niederträchtige Diplomatie Rußlands. Sobald jedoch die Ketten zwischen dem christlichen Lande und der Türkei zerrissen sind, entpuppt sich auch die russische Diplomatie in ihrer wahren Gestalt – nur noch als Niedertracht, und das befreite Land kehrt sich sofort instinktiv gegen Rußland. Wenn die von der Türkei geknechteten Nationen Rußlands Bundesgenossen sind, werden die von der Türkei befreiten Nationen zu ebenso vielen natürlichen Feinden Rußlands. Die heutige russische Politik Bulgariens ist zum größten Teil ein Resultat seiner Halbfreiheit, ein Resultat der Kette, die es noch an die Türkei schmiedet.

Noch wichtiger ist aber ein anderes Resultat, das sich dabei ergibt. Die Befreiung der christlichen Länder von der Türkei ist im Grunde genommen im gleichen Maße eine „Befreiung“ der Türkei von ihren christlichen Untertanen. Diese sind es eben, die der europäischen Diplomatie als Anlaß dazu dienen, in der Türkei zu wirtschaften, und die sie Rußland auf Gnade und Ungnade überantworten. Ferner sind sie es, welche die Türkei im Kriegsfalle widerstandslos machen. Die Christen dienen nicht im türkischen Militär, sind aber zum Aufstand gegen dasselbe stets bereit. Ein auswärtiger Krieg bedeutet daher für die Türkei immer einen zweiten Krieg im eigenen Hause, also die Zersplitterung der Wehrkräfte und Paralysierung der Bewegungen. Von dieser christlichen Plage befreit, wird die Türkei zweifellos eine freiere Stellung in der internationalen Politik einnehmen, ihr Staatsgebiet den Defensivkräften kommensurabler sein, vor allem wird sie aber den inneren Feind, den natürlichen Bundesgenossen jedes auswärtigen Angreifers, loswerden. Mit einem Worte: Der Verzicht auf die Herrschaft über Christen macht die Pforte widerstandsfähiger, vor allem Rußland gegenüber. Dies erklärt, warum Rußland heute für die Integrität der Türkei ist. Es liegt jetzt in seinem Interesse, daß die Türkei im Besitz ihres Desorganisationsbazillus – der christlichen Nationen –

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