Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 640

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der famosen Regierungsenquete zur Vorbereitung des Handelstarifs von 1879 einfach und skrupellos umgangen! Der einzige wirkliche Grund des ganzen handelspolitischen Umschwunges Deutschlands im schutzzöllnerischen Sinne war und ist das Tascheninteresse der Agrarier, ja eigentlich nicht der Agrarier im allgemeinen, sondern direkt der Ostelbier, waren doch die westpreußischen Landwirte ebenso wie die offizielle Vertretung der deutschen Landwirtschaft, der Deutsche Landwirtschaftsrat, 1879 entschieden gegen die Kornzölle und den Schutzzoll überhaupt.

Die Segnungen der Steuer- und Wirtschaftsreformer und ihrer Politik für die deutsche Industrie zeigten sich auch bald noch in der Bekämpfung der Großbanken, der Börse, des ganzen mobilen Kapitals. Gerade die edle „Kreuz-Zeitung“ leistete ja in der Begönnerung der Industrie des Guten so viel, daß sie Mitte der 80er Jahre die Entstehung der speziellen Schutzorganisation gegen die ostelbische „Unverschämtheit“, des Vereins zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen von Handel und Gewerbe, hervorrief.

Würde unsere Bourgeoisie überhaupt imstande sein, der agrarischen Politik in dem Maße die Front zu bieten, wie es ihr wirtschaftlicher Interessengegensatz erfordert, so würden die deutschen Zustände heute ganz anders aussehen. Aber sie ist eben durch ihre reaktionären politischen Interessen an die Agrarier gebunden.

Der nämliche Reichstag, der, auf die Allianz des Zentralverbandes der Industriellen mit der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer gestützt, den Schutzzoll inaugurierte, nahm auch das Sozialistengesetz an, und dies berechtigt schon die agrarischen „Reformer“ zu dem Dank der Arbeiterklasse, den die „Kreuz-Zeitung“ einfordert.

Aber nicht dies allein.

Gewiß, es sah Mitte der siebziger Jahre in Deutschland nach dem Krach[1] gar böse aus, und mancher unserer Genossen entsinnt sich noch der furchtbaren Not, mit der die Arbeiter – nicht für die Ara des Freihandels, sondern für die Ara der tollen Gründerwut – zahlen mußten.

In England legte sich die gleichzeitige Krise in der Eisenindustrie unter der Beibehaltung des Freihandels nach wenigen Jahren, und die unbeschränkte Koalitionsfreiheit, die Macht der Gewerkschaften erlaubten den englischen Arbeitern, sowohl die Zeit der Krise halbwegs glücklich zu überdauern wie bei dem darauf folgenden Aufschwung auch für sich von dem reichen Tische der kapitalistischen Profite einige Krumen zu erwischen.

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[1] Der sogenannte Gründerkrach von 1873 leitete in Deutschland die bis dahin schwerste zyklische Überproduktionskrise des 19. Jahrhunderts ein, die die Folge einer disproportionalen Entwicklung zugunsten der Schwer- und Rüstungsindustrie im stürmischen wirtschaftlichen Aufschwung nach der Reichseinigung von 1871 war.