Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 639

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kung den Steuer- und Wirtschaftsreformern keine Vorwürfe machen, sondern ihnen dafür Dank wissen.“

Gewiß, unser Dank soll nicht fehlen, sparen wir ihn aber zum Ende, und vorläufig einige Worte über die Industrie, der zuliebe, der allein zu Fromm und Nutzen die „Notleidenden“ Ende der 70er Jahre Deutschland in das schutzzöllnerische Fahrwasser getrieben haben wollen. Von der ganzen deutschen „Industrie“ handelte es sich bei dem Tarif von 1878 doch fast nur um die Eisenindustrie. Und wie war doch dasselbe Junkertum noch 1870 gegen dieselbe Eisenindustrie versessen! Wenn die Eisenzollermäßigung nicht gewährt werde, drohte Niendorf, der nachmalige Leiter der Vereinigung, so werde der verarmte Junker als freihändlerischer Tory wiederkommen! Und mit solchem Ungestüm forderten die Agrarier die Abschaffung des Zollschutzes für die Eisenindustrie, trotzdem sie damals eine wichtige technische Umwälzung – das Durchdringen des Bessemer-Prozesses – durchmachte, trotzdem ihre Vertreter unter Anrufung von Himmel und Hölle versicherten, daß ihnen nach Abschaffung des Eisenzolles nichts übrigbleiben würde, als mit Weib und Kind zum Bettelstab zu greifen, und trotzdem die Agrarier als Käufer der landwirtschaftlichen Maschinen eigentlich nur an einem winzigen Teil der gesamten Eisenindustrie unmittelbar interessiert waren. Damals zeigten die Agrarier durchaus keine Neigung, sich darum zu kümmern, wie es der Industrie und wie es den Arbeitern ergehen würde, wenn wirklich „Hochöfen ausgeblasen werden und große Arbeiterentlassungen erfolgen“ würden. Sie bestanden wie Shylock auf ihrem Schein, und der Einzelfall wurde abgeschafft.

Woher kam dann nach wenigen Jahren plötzlich die Liebe und Fürsorge für die Interessen der Industrie, ja derselben Eisenindustrie, gegen die soeben ein Krieg bis aufs Messer geführt worden war? Es war wieder ein Agrarier, der es offen heraussagte: „Die erhöhten Industriezölle“, rief von Maltzahn-Gültz im Reichstage am 6. Mai 1879, „vor deren Forderung wir stehen, wären sicher nicht durchzusetzen gewesen, wenn es nicht gelungen wäre, durch die Lockspeise der Kornzölle einen Teil unserer Landwirtschaft auf diese Seite mit hinüberzuziehen.“ Also nur aus Not, mit Widerwillen, mit innerem Unmut, zähneknirschend koalierte sich das Junkertum mit den „schutzbedürftigen“ Industriellen, nahm plötzlich die Interessen der Industrie und der Industriearbeiter wahr. Dabei wurden, wie es das Interesse der Steuer- und Wirtschaftsreformer erforderte, auch formell nur jene Zweige der Industrie berücksichtigt, die gleich ihnen nach Zöllen schrien.

Die damaligen Exportindustrien, wie die Wollindustrie, wurden ja bei

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