Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 603

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Lebensmittelpreisen entsprechende Höhe hinaufgebracht werden konnten, daß sie vielmehr im Jahre 1885 um 30 Prozent, im Jahre 1890 um 40 Prozent unter der für den Haushalt einer Arbeiterfamilie notwendigen Geldsumme standen. Aber auch hier, in bezug auf die Löhne, wurde das ärgste Elend, der Lohnsatz von 9 und 12 M für die Woche, beseitigt, und im ganzen ist wenigstens die Tendenz des Sinkens der Lebenshaltung stark aufgehalten und verlangsamt worden.

Der gewerkschaftliche Kampf hat aber zugleich mit der materiellen Hebung auch eine geistige Wiedergeburt der Arbeiterschaft herbeigeführt. Schon in seinen Anfängen weckt er das Ehrgefühl der Ausgebeuteten und läßt sie für die vom Protzenkapital mit Füßen getretene Menschenwürde des Arbeiters kämpfen. Bereits in den 70er Jahren, gleich bei den ersten Regungen der Gewerkschaften, wird u. a. Forderungen die der Anrede mit „Sie“ gestellt, so bei den Bäckern[1], Schlächtern[2] u. a. Ferner sieht die Gewerkschaft auf moralische Unbescholtenheit ihrer Mitglieder, sogar auf deren Berufstüchtigkeit. In den Statuten des Fachvereins der Zigarrensortierer z. B. heißt es, daß, wer dreimal hintereinander wegen nachlässiger, schlechter Arbeit oder unmoralischen Betragens entlassen worden sei, sein Mitgliedsrecht verliere.[3]

Die eigentliche geistige Regeneration der Arbeiterschaft wird aber vor allem dadurch von den Koalitionen verwirklicht, daß sie die zersplitterten, in der Trübsal des Einzelloses verkümmernden, vielfach einander bekämpfenden Arbeiter vereinigt und zum Klassenbewußtsein emporhebt.

Die erste Tat der Gewerkschaft bei ihrer Gründung ist vielfach die Aufstellung einer statistischen Erhebung über die Arbeiterverhältnisse in dem betreffenden Gewerbe. So verfuhr der Fachverein der Schuhmacher in Hamburg im Jahre 1886[4], der Zigarrensortierer im Jahre 1881[5], der Maurer im Jahre 1884/85[6], der Klempner im Jahre 1890[7] etc. Dadurch bekommen die einzelnen Arbeiter erst einen Überblick über die Lage ihrer Berufsgenossen, und die Mißstände kommen auf diese Weise zum Bewußtsein der Gesamtheit.

Ferner wirkt die Gewerkschaft in mannigfacher Weise, um die Mannig-

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[1] l. c., S. 119. [Fußnote im Original]

[2] l. c., S. 122. [Fußnote im Original]

[3] l. c., S. 419. [Fußnote im Original]

[4] l. c., S. 377. [Fußnote im Original]

[5] l. c., S. 417. [Fußnote im Original]

[6] l. c., S. 280. [Fußnote im Original]

[7] l. c., S. 294. [Fußnote im Original]