Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 562

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Für uns ist diese Seite ihrer Tätigkeit freilich die wichtigste und schätzenswerteste. Nur spielt vom agitatorischen Standpunkt wieder die Zahl der Landtagssitze eine untergeordnete Rolle, und ein Wahlkompromiß zu ihrer Verdoppelung erscheint eben von demselben Standpunkt als eine ganz absurde Zweckwidrigkeit.

Aber war die bayerische Wahlabmachung eigentlich ein Kompromiß? Wir gelangen hier zur letzten und wichtigsten Frage. Sie klar und deutlich zu beantworten erscheint uns nicht nur zur Beurteilung der letzten bayerischen Landtagswahl, sondern auch zur Entscheidung über die allgemeine Richtschnur bei den Landtagswahlen, die vielleicht schon von dem nächsten Parteitag aufgestellt wird, notwendig.

Es wurde in der Partei in der letzten Zeit viel darüber gestritten, was ein Kompromiß sei. Stellt man das Abstimmen für das „geringere Übel“ als Grundsatz bei unserem zusammengehen mit den bürgerlichen Parteien auf, dann gewinnen wir keine Schranken für Kompromisse, denn guter Wille wird unter der schwärzesten Reaktion noch eine unsichtbare Nuance herausfinden, wie denn auch das bayerische Zentrum nun als das „geringere Übel“ aufmarschiert. Verbietet man uns dagegen im allgemeinen „für die Reaktion“ zu stimmen, dann gewinnen wir keine Grundlage für unser Zusammengehen mit der Bourgeoisie, denn welche bürgerliche Partei ist heute nicht reaktionär?

Wir glauben, daß eine sehr sichere Richtschnur sich gerade aus unserem bisherigen Verfahren bei den Stichwahlen zum Reichstag ableiten läßt, und die liegt im folgenden: Wir dürfen nur da für eine bürgerliche Partei stimmen, wo ihre Verstärkung im Reichstag oder Landtag aus politischen Gründen an und für sich im Interesse der Arbeiter erwünscht ist, und niemals dort, wo diese Verstärkung an sich schädlich und nur als Bedingung eines anderweitigen Gewinns, einer Gegenleistung für uns erscheint.

Diese Regel läßt den politischen Wert der bayerischen Abmachung im hellen Lichte erscheinen. Würde man den bayerischen Genossen zumuten, so ohne weiteres das Zentrum im Landtage im Interesse der Arbeiterschaft zu verstärken, sie würden das als einen Wahnsinn zurückweisen. Nun taten sie hier aber, was sie sonst nie getan hätten, nicht um etwa durch die Zentrumsvertretung im Landtage irgendeinen politischen Gewinn zu erzielen, wie wir es z. B. durch die Verstärkung des Freisinns im Reichstage tun, sondern weil sie mit dieser an sich schädlichen und unerwünschten Vertretung für sich eine Anzahl Mandate erkauften. Der Kompromiß und der Wahlschacher im eigentlichen Sinne des Wortes liegen somit auf der Hand. Und daran, lieber Parvus, ändert nichts, daß unsere

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