Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 561

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„Man muß überhaupt“, sagt Parvus, „die bürgerlichen Fraktionen von ihrer Wählerschaft zu unterscheiden wissen. Darauf basiert unsere ganze Agitation. Die ersteren bekämpfen wir, die letztere suchen wir zu gewinnen.“ Nun, nach dem bayerischen Beispiel weiß man wenigstens, wie das gemacht wird: Wir „gewinnen“ die bürgerliche Wählerschaft, indem wir uns zu ihren Parteizwecken als Mittel gebrauchen lassen, und wir „bekämpfen“ die bürgerlichen Fraktionen, indem wir ihnen zur Mehrheit verhelfen.

Daß man sich bei dem Kampf um das Wahlrecht nicht „ausschließlich auf den Druck des Volkes“, sondern auch auf die parlamentarische Konstellation verlegen muß, das ist abermals ganz richtig, wie überhaupt alle allgemeinen Regeln der Politik bei Parvus in diesem Falle die stärkste Seite sind. Aber wiederum, welche Anwendung hat diese Regel auf die bayerischen Landtagswahlen?

Wir sehen hier für einen Augenblick davon ab, daß Parvus sich sonst nicht für Erzielung „parlamentarischer Konstellationen“ um jeden Preis (so z. B. für Erzielung von Volksrechten durch Gewährung von Kanonen) erwärmte. Fragen wir nur nach der Konstellation selbst! Also der Druck des Volkes ist zur Erringung einer Wahlreform in Bayern ungenügend, man mußte noch eine günstige Parteikonstellation im bayerischen Landtage schaffen. Und wodurch wurde das zustande gebracht? Dadurch, daß man derjenigen Partei, die bis jetzt, als sie noch keine Mehrheit hatte, jede Wahlreform zu hintertreiben wußte, daß man ihr nun für sechs Jahre eine Majorität im Landtag gesichert hat. Das war die zur Wahlreform erforderliche „parlamentarische Konstellation“! Sehen Sie, lieber Parvus, was Sie uns da erzählen!

Angesichts dieser faustdicken Tatsache der wahlreformfeindlichen Majorität des Landtags ist die Verdoppelung der sozialdemokratischen Abgeordneten, die mit jener erkauft wurde, für die Wahlrechtsfrage eine Verschlechterung und nicht eine Verbesserung der „Konstellation“. Freilich können jetzt die elf Abgeordneten eventuell zweimal soviel im Landtag reden wie vorher die fünf. Aber ihre Reden werden ja jetzt, insofern das Parlament als solches in Betracht kommt, eine Stimme in der Wüste sein. Gegenwärtig sind die bayerischen Abgeordneten ja ausschließlich auf das Reden „durch das Fenster“ angewiesen. Und so sind unsere „praktischen Politiker“ in schönsten Widerspruch mit sich selbst geraten: Aus lauter Drang nach „positiven Erfolgen“ haben sie sich jede Aussicht auf positiven Erfolg abgeschnitten und sich zu rein agitatorischer Rolle im Landtag verurteilt.

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