Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 552

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Mit seinen Ausführungen über Krisen und Kartelle schließt Bernstein seine Untersuchungen über die wirtschaftliche Entwicklung der modernen Gesellschaft. Geben sie uns Veranlassung, unser Programm zu ändern? Haben sie erwiesen, daß die ökonomische Entwicklung in anderer Richtung vor sich geht als sie Marx gezeichnet?

Ich denke, sagt Kautsky, wir können auf diese Frage ruhig mit Nein antworten.

Bernstein hat in seinem letzten Artikel im „Vorwärts“[1] seine Kritik hauptsächlich gegen die Formulierung der Begründung unseres Programms gerichtet. Tatsächlich handelt es sich nicht um die Formulierung, sondern um die Begründung, um die ganze Auffassung, um das sozialistische Programm selbst. Bernstein behauptet, auf sozialistischem Standpunkt nach wie vor zu stehen. Vergebens würde man aber nach einer Begründung seines Sozialismus fragen. Dieser Sozialismus liegt denn auch bloß in seiner subjektiven Vorstellung. Objektiv, vom Standpunkte seiner theoretischen Ausführungen, gehört Bernstein, wie Kautsky konstatiert, in jenes bunte Lager des sozialreformerischen Liberalismus, das ihn auch mit vollem Recht für sich reklamiert.

Wir übergehen das letzte Hauptstück des Kautskyschen Buches über die Taktik, wo er die Notwendigkeit eines selbständigen politischen Kampfes der Arbeiterklasse gegenüber den Bernsteinschen Mahnungen zur liberalen „Sammlungspolitik“ nachweist. Zum Schluß beantwortet Kautsky die Frage, „ob wir siegen dürfen“ trotz der Befürchtungen, die Bernstein wegen der mangelnden politischen Reife des Proletariats hegt.

Das Proletariat, sagt Kautsky, steht, was seine politische Reife betrifft, allen anderen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft gar nicht nach, am allerwenigsten seine Elite, die bei einer Machtergreifung die Führung selbstverständlich übernehmen würde. Aber dies ganze Räsonnement über die Reife ist ja überhaupt eine absurde und müßige Beschäftigung, da eine Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat doch nicht ein beliebig künstlich hervorzurufendes, sondern nur ein notwendiges historisches Ereignis sein kann.

„Wenn es aber absurd ist, von dem Aufschub eines historischen Ereignisses zu reden, was haben dann die Kassandrarufe von der mangelnden politischen Reife des Proletariats für einen Sinn? Wir sind nicht die Lenker der historischen Entwicklung. Diese hängt von Faktoren ab, die weit mächtiger sind als einzelne Parteien und ihre frommen Wünsche. Ob das Proletariat jetzt schon weit genug ist, die politische Herrschaft zu über-

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[1] Eduard Bernstein: Meine Stellung zum theoretischen Teil des Erfurter Programms. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 206 vom 3. September 1899.