Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 553

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nehmen, ob es dereinst, wenn es die politische Macht erobert, in allen Punkten schon die nötigen politischen Fähigkeiten entwickeln, ob es der ungeheuren historischen Aufgabe, die ihm zufällt, ohne weiteres gewachsen sein wird, ob seine Siege durch Niederlagen unterbrochen sein werden, ob die kommende politische Entwicklung eine langsame oder schnelle sein wird – wer könnte darauf antworten? Wenn man aber diese Fragen nicht beantworten kann, wird alles Spintisieren über die heutige politische Reife des Proletariats zwecklos, und es kommt auf kein höheres Niveau durch die Verdächtigung derjenigen, die in die apodiktische Impotenzerklärung des Proletariats nicht mit einstimmen. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, das Proletariat mitten im Kampfe zu entmutigen durch grundloses Verkleinern seiner politischen Fähigkeiten, sondern darin, die höchsten Anforderungen an die politischen Fähigkeiten des Proletariats zu stellen und daher alles aufzubieten, sie möglichst zu steigern, so daß jeder Moment es auf der größten Höhe seiner Leistungsfähigkeit findet.

Zu dieser Aufgabe gehört es aber nicht nur, daß wir das Proletariat organisieren und ihm bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen erkämpfen helfen. Dazu gehört es auch, daß wir den Blick des Proletariats erweitern über den Kreis seiner Augenblicks- und Berufsinteressen hinaus, daß wir es die großen Zusammenhänge aller proletarischen Interessen untereinander und mit den allgemeinen gesellschaftlichen Interessen erkennen lassen. Es gehört dazu, daß wir ihm große Zwecke setzen, mit denen es selbst zu höherem Geistesleben heranwächst, daß wir es erheben über die alltägliche Kleinarbeit, die unentbehrlich ist und die das Leben dringend erheischt, die es uns aber ebendeshalb von selbst aufdrängt, ohne daß wir nötig hätten, dazu besonders eifrig zu mahnen. Sorgen wir dafür, daß nicht Kleinheitswahn das Proletariat und seine Ziele degradiert, daß nicht an Stelle einer weit ausblickenden grundsätzlichen Politik das Fortwursteln von Fall zu Fall eintritt, mit anderen Worten, daß nicht die nüchterne Alltäglichkeit den Idealismus überwuchert, daß nicht das Bewußtsein der großen historischen Aufgaben verlorengeht, die dem Proletariat gestellt sind. Wenn wir in diesem Sinne unsere volle Kraft einsetzen, haben wir unsere Pflicht als Sozialdemokraten getan: der Erfolg unseres Wirkens steht in der Hand von Faktoren, die wir nicht beherrschen.“[1]

Mit diesen Worten schließt Kautsky sein Buch, mit dem die Polemik gegen Bernstein den glücklichsten Abschluß findet. Nun gibt es keine einzige Behauptung seinerseits, die nicht geprüft, beantwortet und gründlich widerlegt worden wäre.

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[1] Karl Kautsky: Bernstein und das sozialdemokratische Programm, Stuttgart 1899, S. 194 f.