Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 528

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/528

„der Freiheit der Kritik“ anwenden, denn sie sind ja die Voraussetzung aller Tätigkeit, also auch der Kritik über diese Tätigkeit in unseren Reihen. Wir brauchen unsere Ohren vor einer von außen kommenden Kritik auch in bezug auf diese Grundsätze nicht zu verschließen. Wir müssen aber, solange wir sie als den Boden unserer Existenz als Partei betrachten, an diesen Grundsätzen festhalten und sie auch nicht von unseren Mitgliedern erschüttern lassen. Hier können wir nur eine Freiheit gewähren: die Freiheit der Zugehörigkeit oder der Nichtzugehörigkeit zu unserer Partei. Wir zwingen niemanden, mit uns in Reih und Glied zu marschieren, tut es aber jemand freiwillig, so müssen wir bei ihm die Zustimmung zu unseren Prinzipien voraussetzen.

Sonst, wollten wir alle unsere Grundsätze, unsere ganze Auffassung, das Programm und die Taktik jeden Tag von neuem einer uneingeschränkten „freien Kritik“ überlassen, dann könnten wir auch die Anarchisten, die Nationalsozialen[1], die Ethiker usw. in unserer Partei im Rahmen der „freien Kritik“ akzeptieren, denn dann gibt es ja in unserem Bestand überhaupt nichts Festes, nichts Unantastbares, nichts Beschränkendes. Aber dann hörten wir auch auf, eine politische Partei zu sein, die sich von anderen Parteien durch bestimmte Grundsätze unterscheidet, dann verlieren wir jeden Boden unter den Füßen und lösen uns auf in der Luft der „freien Kritik“.

So findet auch die Freiheit der Kritik an unserem Wesen selbst als einer politischen Partei ihre praktischen Grenzen. Das, was uns selbst ausmacht: der Klassenkampf, kann einer „freien Kritik“ in unserer Partei nicht unterliegen. Wir können nicht im Namen der „Freiheit der Kritik“ einen Selbstmord begehen, der Opportunismus läuft aber darauf hinaus, uns, wie Bebel sagte, das Rückgrat zu zerbrechen, also unsere Vernichtung als Partei des Klassenkampfes zu bewirken.

Endlich das letzte Manöver der Verteidiger Bernsteins (siehe die Rede des Genossen Fischer im zweiten Berliner Wahlkreise) besteht darin, die zur Diskussion stehenden Fragen als so sehr gelehrt, verwickelt und schwierig darzustellen, daß eine Beurteilung, geschweige Beschlußfassung des großen Haufens der Genossen in diesen Fragen als eine Anmaßung sondergleichen erscheinen muß. Diese Politik des (man gestatte uns den Ausdruck) „Sichdumm-Stellens“ wird wahrscheinlich auch in Hannover eine Rolle spielen. Ihre Fadenscheinigkeit ist aber sehr leicht auch von einem einfachen „Nichtgelehrten“ zu ersehen.

Es stehen nämlich auf dem Parteitag zur Verhandlung nicht wissen-

Nächste Seite »



[1] Der 1896 von Friedrich Naumann gegründete Nationalsoziale Verein vertrat die imperialistische Expansionspolitik und versuchte, mit der demagogischen Forderung nach einem christlich-nationalen Sozialismus die Arbeiterklasse vom politischen und sozialen Kampf abzuhalten.