Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 529

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schaftliche, theoretische, sondern eine Reihe rein praktischer Fragen über die Grundsätze und die Taktik der Partei. So z. B. vor allem die Stellung zum Militarismus und zur Milizfrage. Es gehört wirklich ein hohes Maß von Ungeniertheit dazu, den Arbeitern einreden zu wollen, daß es sich bei Punkt 6 der Tagesordnung um „wissenschaftliche Untersuchungen über den Militarismus“ seitens des Genossen Schippel handele. Sollte diese Behauptung in den Parteikreisen naiven Glauben finden, dann wäre nur zu sagen: Armer Stegmüller! Wäre er nur auf die Idee verfallen, einen Artikel über seine Praktiken in den „Sozialistischen Monatsheften“ zu schreiben, er würde in Ruhe und Ehre noch heute unter uns blühen. Denn wer wagt, an „wissenschaftlichen Untersuchungen über die Kirchenbauten“[1] Anstoß zu nehmen?

Tatsächlich kann der Schippelsche Feldzug gegen die Milizforderung ebensowenig vom „wissenschaftlichen“ Standpunkt betrachtet werden wie die Stegmüllerschen Kirchenbauten. Schippel hat in seinem Artikel einfach darzutun gesucht, daß die Miliz, das Volksheer, das seit jeher einer unserer wichtigsten politischen Programmpunkte war, etwas technisch Unerreichbares, politisch Unerwünschtes, wirtschaftlich Lästiges, der Militarismus dagegen unentbehrlich und wirtschaftlich heilsam ist. Damit ist unserer ganzen bisherigen parlamentarischen Tätigkeit und unserer ganzen Agitation, deren Zentralachse der Kampf gegen den Militarismus bildet, direkt ins Gesicht geschlagen worden. Will man der Partei unter dem Vorwande der Freiheit der Wissenschaft das Recht absprechen, zu einem solchen Angriff auf ihre Grundanschauungen Stellung zu nehmen, so wäre das gewiß der ärgste Mißbrauch mit dem Namen der „Wissenschaft“, der je zur Nasführung der Massen angewendet worden ist.

Im gleichen Maße praktisch und nicht wissenschaftlich sind die Fragen, die zum Punkt 7 der Tagesordnung gehören. Die Taktik bei den bayerischen Landtagswahlen[2] ist hoffentlich keine gelehrte Frage, die sich dem Urteil der Delegierten der Sozialdemokratie entzieht. Desgleichen sind in der Bernsteinschen Theorie zwei verschiedene Teile, ein theoretischer, wo Bernstein über die Werttheorie, die Krisen, die materialistische Geschichtsauffassung seine kritischen Meinungen darlegt, und ein praktischer, wo er von den Gewerkschaften, Genossenschaften, der Kolonialpolitik und dem Verhalten zum herrschenden Staate und zu den bürgerlichen Parteien spricht.

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[1] Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts hatte sielt Stegmüller, sozialdemokratischer Abgeordneter im badischen Landtag, für die Bewilligung von 40 000 Mark für einen Kirchenbau in Lörrach eingesetzt. Auf dem sozialdemokratischen Parteitag vom 21. bis 27. Oktober 1894 in Frankfurt (Main) war ihm deshalb ein Tadel ausgesprochen worden.

[2] In den Wahlkreisen München I und Rheinpfalz hatten die Sozialdemokraten und das Zentrum eine gemeinsame Liste ihrer Wahlmänner für die Wahlen zum bayrischen Landtag am 17. Juli 1899 aufgestellt. Zwar konnte die Sozialdemokratie die Zahl ihrer Mandate von 5 auf 11 erhöhen, dem Zentrum jedoch brachte dieses Bündnis die absolute Mehrheit im Landtag.